Der Kindersammler

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Es ist Nacht in Liberheim. Dunkelheit hüllt die Fachwerkhäuser der gutbürgerlichen Stadt im Westen des Fürstentum Draken in einen schwarz-melancholischen Nebel. Nur die Laternen bringen etwas warmes Licht in die sonst so kalte Nacht. Liberheim war schon immer ein im Fürstentum Draken sehr begehrter Wohnsitz und es trieb viele Händler und Kaufleute hier her, die der Stadt zu ihrem heutigen Glanz verhalfen. Doch schon bald sollte ihr Ruf als Goldstück des Westens getrübt werden…

Ruhe herrscht in den Straßen Liberheims, denn die Menschen bleiben lieber in ihren Häusern, wenn die Finsternis das Land einhüllt. Das Fürstentum Draken ist noch immer ein dunkles und finsteres Land und obwohl die Stadt über eine ausgezeichnete Stadtwache verfügt, so gelingt es doch dem ein oder anderen Wesen aus den östlichen Wäldern sich in die Stadt zu verirren und keiner der Bewohner legt Wert auf eine Begegnung mit den Kreaturen der Nacht. Ein Schatten läuft eilig die Hauptstraße entlang. Es ist der kleine Ivo, welcher beim spielen mit einem seiner Freunde die Zeit vergaß und nun allein nach Hause eilt. Unsicher blickt er umher, dabei seinen Ball fest an den Körper drückend. Schon viele Geschichten hatte er in seinem noch jungen Leben gehört, über allerlei Wesen welche des Nachts hier draußen ihr Unwesen treiben. Bisher dachte er nicht darüber nach, ob die Geschichten wahr sind, doch nun, da er gezwungen ist, durch ihr Territorium zu laufen, dringen doch die Gedanken an den Wahrheitsgehalt der Geschichten in seinen Sinn. Furcht sickert in seinen Geist, doch bisher hatte noch niemand aus seinem Bekanntenkreis ein solches Wesen gesehen. Wahrscheinlich erzählten die Eltern wieder nur Geschichten, um den Kindern Angst zu machen. So wie sie vom Schwarzen Mann erzählen, der des Nachts die unartigen Kinder holt, die nicht schlafen wollen. Nun neuen Mut fassend, eilt er weiter durch das Licht der Laternen die Hauptstraße entlang. Doch da hört er plötzlich ein Geräusch. Er bleibt stehen und schaut sich unsicher um. Das Geräusch kam aus einer kleinen Seitengasse. Vorsichtig mustert er das Dunkel… da nähert sich ein kleiner Schatten.

“Ein Monster!”, ruft er laut und weicht zurück. Dabei jedoch beachtet er einen lockeren Stein nicht und stürzt zu Boden. Voller Schrecken blickt er auf den Schatten, der aus der Gasse kommt, doch als sich das Etwas ins Licht bewegt, verfliegt seine Furcht, denn es ist nur eine Katze. Diese setzt sich auf den Bürgersteig und schaut ihn verwundert an. Als sich Ivo erhebt, erschrickt sie jedoch und ist auf und davon.

“Monster…”, denkt er bei sich, “so ein Unsinn…”, und geht weiter.

Nach einiger Metern erreicht er eine Kreuzung und vernimmt erneut Geräusche, diesmal jedoch Schritte welche langsam näher kommen. Wieder erfasst ihn Furcht und er geht einige Schritte zurück, darauf harrend, was diesmal um die Ecke kommt. Die Schritte werden lauter.

“Was, wenn das doch ein Monster ist?!”, denkt sich Ivo. Die Bereitschaft zu flüchten macht sich in seinem Kopf breit, doch er ist neugierig und will wissen, wie es aussieht. Doch dann erkennt er, wer der Urheber der Schritte ist. Eine Stadtwache mit einer Hellebarde tritt um die Ecke und bemerkt den verängstigten Jungen.

“Ist alles in Ordnung? Was machst du hier draußen?”, fragt die Wache.

“Ich bin auf dem Heimweg…”, entgegnet Ivo nur schüchtern.

“Soll ich dich vielleicht nach Hause bringen? Es ist gefährlich Nachts in den Straßen.”

“Nein, ich bin gleich daheim… Danke…”

Die Wache zuckt mit den Schultern und setzte ihre Patrouille fort. Ivo muss sich jedoch erst von dem Schreck erholen und verweilt einen Moment. Dann geht er weiter. Es ist ja nicht

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mehr weit. Nach einer Weile tadelt er sich selbst für sein törichtes Verhalten, denn Monster gibt es nicht. In Gedanken versunken mustert er die Struktur des Gehweges, doch dann bleibt er stehen, als er bemerkt, dass es vor ihm plötzlich dunkel wird. Er blickt auf und sieht, dass die Laternen, die vor ihm liegen, nicht leuchten. Als wäre das nicht genug, bemerkt er nun auch noch, dass Nebel aufzieht… Er blickt die Straße entlang und sieht, dass die erste Laterne die wieder brennt ein beachtliches Stück entfernt liegt und sich somit ein Meer der Dunkelheit vor ihm befindet, welches er durchschreiten muss. Bei sich denkt er, dass es wohl besser gewesen wäre, wenn er mit der Wache gegangen wäre. Dann hört er wieder Schritte… Sie sind ein Stück entfernt, doch im Licht der Laternen hinter dem Dunkelmeer kann Ivo nichts erkennen. Woher kommen nun wieder diese Schritte? Er dreht sich um, um zu sehen, ob der Urheber nicht hinter ihm sei. Dabei bemerkt er, dass der Nebel die Sicht schon beachtlich trübt. Verängstigt blickt er sich um, die Schritte werden lauter und lauter bis sie schließlich abrupt verstummen.

“Hallo meine Junge. Was machst du denn um die Zeit noch hier draußen?”, spricht eine tiefe Stimme sanft zu ihm. Ivo wendet sich erschrocken herum, ist dann jedoch erleichtert, als er bemerkt, dass es auch diesmal kein Monster ist.

“Ich will eigentlich nur nach Hause… Ich habe solche Angst…”

Verängstigt schaut Ivo den Fremden an., welcher im Dunkel nur ein schattenhafter Umriss ist.

“Du armer Junge.”, entgegnet der Fremde freundlich, “Lass mich dich nach Hause begleiten…”

Graf Magnus Schwarzherz sitzt an seinem großen Eichenschreibtisch in der Bibliothek seines Anwesens westlich von Liberheim. Einst war dies die Sommerresidenz der Familie Schwarzherz, der Hauptwohnsitz selbst lag im Zentrum Liberheims. Doch nach dem Tod seines Vaters und der Übernahme seines Landes, zog es Magnus vor, sich zurückzuziehen. Er ist ein gewissenhafter Regent und kümmert sich mit aller Mühe um die Geschicke der Grafschaft, doch er liebte das Menschengedränge noch nie und so zieht er es vor, allein in seiner Residenz zu leben, welche direkt an der Westküste des Nordkontinents liegt. Von seiner Bibliothek aus, hat er einen wunderbaren Blick durch die vielen großen Fenster hinaus auf das Meer, welches hier Dunkelstrom genannt wird. Jenseits des Dunkelstromes soll das Elfenreich Valgaris liegen und so sitzt er oft hier, starrt aus dem Fenster und gedenkt den Dingen, die jenseits des Wassers auf Entdeckung warten. So tut er es auch diese Nacht wieder. Eigentlich müsste er einen Bericht über seine letzte Mission in Grenada schreiben, doch sein Geist weigert sich, ihm zu gehorchen. Ein lautes Pochen an der Zimmertür reißt ihn jedoch schnell aus seinen Träumereien.

“Was ist denn?”, ruft er mürrisch.

Langsam öffnet sich die schwere Holztür hinter ihm und ein in einen Anzug gekleideter Mann mit kurzem grauen Haar, Schnauzbart und einer Brille tritt herein.

“Mylord, das Abendessen ist angerichtet.”

“Ja, Adelbert… Ich komm gleich. Gehe schon vor…”

“Wie ihr wünscht Mylord.”, entgegnet der Mann und entschwindet wieder.

Magnus blickt auf den Tisch und bemerkt das noch leere Pergament, dass vor ihm liegt. Daneben stehen schon Tintenfass und Federkiel bereit. Erst jetzt kommt ihm wieder in den Sinn, was er hier eigentlich machen wollte. Doch er beschließt, dies auf später zu verschieben, denn es eilt nicht wirklich. In Grenada dürfte ohnehin kein Stein mehr auf dem anderen stehen. So löscht er die Öllampe die auf dem Tisch steht und verlässt den Raum.

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Das Essen will Magnus nicht so recht schmecken. Wenngleich Adelbert, sein Bediensteter ein ausgezeichneter Koch ist, so fehlt es Magnus an der rechten Motivation um zu essen. Das Leben langweilt ihn.

Er ist ein einfacher Graf, welcher den Schatten der einstigen Grafschaft Schwarzherz verwaltet. Er hatte dies nie gewollt, doch er war der einzige Erbe und so musste er diese Rolle nach dem Tod seines Vaters übernehmen. Neben der einfachen Verwaltung muss er auch Teil des Rats der Fünf sein. Zu diesem gehören Fürst Vlad van Draken, der den Vorsitz führt, Graf Leonardt Obscuri, ein alter Theoretiker und Konservativer, Graf Griswold Gorebringer, ein fanatischer Kriegsherr, und Lady Creanna Immorta del Sanguisa, welche die einzige ist, die er neben Adelbert als Freund bezeichnen würde. Die Tatsache, dass er Teil des Rates sein muss ist ohnehin nur eine Farce, denn selbst wenn es ihn gelüsten würde, etwas einzubringen, so würden es die anderen schon irgendwie überstimmen. Und so hält er sich zumeist dezent zurück. Alles in allem fragt er sich zumeist, warum er ausgerechnet als Sohn eins Grafen auf die Welt kommen musste. Wenngleich er das einfache Volk aufgrund seines Aberglaubens und der fanatischen Anbetung des Gottes Vortex nicht sonderlich achtet, beneidet er sie doch ab und an, denn ihnen ist nicht ein solch einsames Leben gegeben wie ihm.

“Schmeckt es euch nicht, Mylord?”

“Doch, doch, Adelbert, es ist vorzüglich…”

“Mit Verlaub, Mylord, doch euer Tonfall und euer Blick verraten mir, dass ich euren Worten keinen Glauben schenken kann.”

“Nun, mir fehlt es an Appetit, das ist alles. Deine Kochkünste sind vorzüglich wie immer. Du kannst den Tisch abräumen, ich werde mich nun zu Bett begeben.”

“Wie ihr wünscht Mylord.”

Langsam und unwillig erhebt sich Magnus von dem Esstisch, dessen Anblick allein ihn schon betrübt, denn er sitzt allein an einem Tisch, an dem zwölf Mann Platz nehmen könnten. Langsam wandelt er in sein Zimmer.

Er schaut in den Spiegel, der in seinem Schlafgemach steht. Er sieht einen verbitterten jungen Mann mit mittellangen dunkelblonden Haaren und violetten Augen. Woher er diese besondere Augenfarbe hat, weiß niemand, doch im Volk munkelt man, ein Tropfen Dämonenblut würde in seinen Adern rinnen. Doch das ist Magnus dann doch etwas zu skurril, wenngleich es sein Leben wohl aufregender gestalten würde… Nach einer Weile lässt er vom Spiegel ab und begibt sich zu Bett…

Nach einer geruhsamen Nacht erwacht Magnus in seinem Zimmer. Die ersten Sonnenstrahlen dringen durch die nicht von den violetten Vorhängen abgedeckten Ritzen des Fensters. Nachdenklich schaut er die Deckenstuckatur an. Ein neuer Tag erwacht, doch was wird er ihm bringen? Freude? Glück? Neue Hoffnung? All das verlor er vor langer Zeit schon und doch zwingt ihn eine seltsame Macht dazu, jeden Tag weiterzumachen. Mancher würde dies wohl als Überlebensinstinkt bezeichnen… So erhebt er sich langsam und geht hinüber zu einem der Fenster, zieht die Vorhänge beiseite und betrachtet die Sonne, welche sich langsam über den Horizont erhebt. Der Himmel ist wolkenfrei und es scheint ein wahrhaft prächtiger Tag zu werden. Nun durch den Anblick des beginnenden Tages in seinem Überlebenswillen bekräftigt kleidet sich Magnus an. Als er seine Kleidung angelegt hat, beschließt er noch ein wenig den prachtvollen Anblick zu genießen und tritt hinaus auf den Balkon vor seinem Schlafzimmer. Da die Residenz auf einer Anhöhe erbaut wurde ist der Ausblick von hier oben hervorragend. Er betrachtet das östlich gelegene Liberheim und den großen Wald der

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sich von Liberheim bis an die Grenze zum Reich Shaseria erstreckt. In Liberheim scheint schon Leben zu herrschen, denn aus den ersten Schornsteinen sieht er feine Rauchschwaden aufziehen. Als er die Stadt so betrachtet, stellt er fest, dass sie von hier doch aussieht wie eine kleine Spielzeugstadt oder eine dieser perfekt gelegenen Städte, wie man sie auf Gemälden vorfindet. Die Luft ist heute besonders klar und so kann er sogar Schloss Drakenhof auf dem Drakenfels im Nordosten sehen. Im entfernten Norden erstrecken sich die Gipfel des Rückens der Welt, des größten Gebirges auf dem ganzen Nordkontinent. Der Rücken der Welt reicht von der Westküste des Fürstentums Draken bis in die Wilden Länder östlich von Shaseria. Inmitten des ohnehin schon imposanten Gebirges ragt ein besonders hoher Gipfel in den Himmel. Es ist Abigors Fels, benannt nach dem ersten aller Drachen. Der Legende nach soll er immer noch auf diesem Berg leben. Im entfernten Osten kann man noch leicht die Umrisse zweier Gebirge erkennen. Das nördlichere ist das Tote Gebirge, ein Ausläufer des Rückens der Welt, und das südlichere ist der Grenzwall. Zwischen beiden liegt, bzw. lag die Stadt Grenada. Magnus schaut genau hin und meint den Rauch über den Ruinen der Stadt zu erkennen, doch kann dies auch Einbildung sein.

Grenada… Eine ganze Stadt ausgelöscht im Namen Fürst van Drakens…

“Rache” war das Wort, was der Fürst als Begründung anbrachte… Rache für das, was die Barbaren aus Shaseria Vortex auserwähltem Volk angetan hatte. Doch was sollte das bringen? Ob sich die Toten wohl daran erfreuen würden? Kann man Gewalt nur mit Gewalt sühnen? Fragen die Magnus schon begleiten, seit er fünf war…

“Es ist doch alles nur ein dummer Zufall…”, denkt er so bei sich.

“Fürst van Draken ist ein weiser Herrscher. Hätten ihn Gorebringer und Obscuri nicht die ganze Zeit bearbeitet, der Angriff auf Grenada hätte wohl nicht stattgefunden… Und wäre nicht der Schmerz über den Verlust seine Sohnes gewesen, er hätte sicher nicht einmal über einen Angriff nachgedacht. Doch ein Verlust kann einen Menschen verändern. Er brennt ihm die Seele aus…”

Magnus denkt über den Bericht nach, den er noch verfassen muss. Soll er schreiben was in Grenada wirklich geschah? Doch Lady Creanna gab ihm den Rat, zu verschweigen, wen sie gefunden hatten. Der Fürst würde wohl eher noch wollen, dass sein Sohn tot ist als das… So beschließt er, bei der offiziellen Variante zu bleiben und zu berichten, dass der Feind unterwandert und von innen heraus geschwächt wurde… und nicht durch diesen Irrsinn seine Leute verlor… Als er so in die Ferne blickt, denkt er wieder an die Zeit in Grenada. Die Stadt war wahrlich beeindruckend und er wäre gerne noch dort geblieben, hätte Fürst van Draken sie nicht brennen sehen wollen. Und er denkt wieder an den Mann, den er sah als er mit Lady Creanna die Stadt verlassen wollte. Obwohl die Menschen sich an jenem Abend auf der Straße drängten, fiel dieser Mann mit dem Krempenhut doch zwischen ihnen auf. Im Vorbeireiten musterte Magnus ihn und dachte darüber nach, was dieser Mensch, der förmlich nach Abenteuer aussieht, wohl schon alles erlebt hat. Vielleicht bemerkte er den Fremden auch nur, weil er ihn etwas verwundert anstarrte.

“Ob er es rechtzeitig geschafft hat, zu fliehen…”, denkt Magnus so bei sich, als es plötzlich an der Tür klopft. Er geht zurück ins Zimmer und schließt die Tür zum Balkon. An der Zimmertür steht Adelbert, welcher ihm mitteilt, dass das Frühstück angerichtet ist.

Magnus Magen knurrt verdächtig und so geht er hinunter um etwas zu essen…

An jenem Morgen erwacht Vater Munsk in seinem Sessel. Er blickt sich im Wohnzimmer um und bemerkt, dass bereits die ersten Sonnenstrahlen zum Fenster herein scheinen. Müde erhebt er sich und geht zu seiner Frau herüber, welche am Esstisch sitzt und ihren Kopf auf

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eben jenen gelegt hat. Die beiden hatten die ganze Nacht darauf gewartet, dass ihr Sohn Ivo nach Hause kommt, doch auch als die Uhr zwölf schlug, war er nicht daheim. Vorsichtig legt er seine Hand auf ihren Kopf und versucht sie mit sanftem Streicheln zu wecken. Frau Munsk öffnet langsam die Augen und erblickt vor sich ihren Sohn.

“Ivo!”, schreit sie laut, doch ihr Anflug von Freude ist schnell verflogen, als sie statt in das Gesicht ihres Sohnes in die ernst blickenden Augen ihres Mannes schaut.

“Er ist noch immer verschwunden, oder?”, fragt sie niedergeschlagen.

“Ja…”, antwortet ihr Mann mit bedrückter Stimme.

Frau Munsk erhebt sich und bewegt sich Richtung Küche.

“Ich werde erstmal das Frühstück machen…”

Herr Munsk schaut seiner Frau traurig hinterher und sagt:

“Nachher gehen wir zur Stadtwache, vielleicht wissen die etwas.”

“Adelbert, das Frühstück war wirklich vorzüglich.”

“Das freut mich Mylord, doch ich dachte, dass es das immer ist.”

“Oh, natürlich ist es das, Adelbert. Aber ich finde, man kann das nicht oft genug erwähnen.”

“Wie ich sehe, geht es Mylord heute schon viel besser, das freut mich natürlich außerordentlich.”

Magnus erhebt sich und bemerkt lachend:

“Ach Adelbert, was würde ich nur ohne sie machen, hahaha. Doch nun werde ich mich in mein Arbeitszimmer begeben. Ich muss noch den Bericht für Fürst van Draken schreiben.

“Sehr wohl, Mylord.”

So begibt sich Magnus nach oben in sein Arbeitszimmer.

Er schließt hinter sich die Tür und nimmt an seinem Schreibtisch, auf dem noch immer die Schreibutensilien vom Vortag liegen Platz. So nimmt er den Federkiel, taucht ihn in die Tinte und beginnt zu schreiben…

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Noch einmal schaut Magnus den Text durch und ist irgendwie angewidert. Wie er doch diese Floskeln hasst, doch der Fürst erfreut sich an so etwas und so soll er sie auch bekommen.

Vorsichtig klappt Magnus das Blatt zusammen und setzt auf die Kante mit Wachs sein Siegel. Da in der Residenz jedoch nur Magnus, Adelbert und einige Wachen leben, muss er erst nach Liberheim, um einen Boten damit beauftragen zu können, jenes Schriftstück nach Drakenhof zu bringen. Doch dies kann noch warten. So verweilt Magnus noch ein wenig an seinem geliebten Schreibtisch und kramt ein altes Schriftstück aus einem der Schubfächer hervor.

“Hmm… wo war ich gleich…”

Unschlüssig liest er in einem, vor langer Zeit begonnenen, Manuskript.

“Hmm…. Ach, ich glaube ich werde dies später einmal weiter schreiben. Die Botschaft hat Vorrang und ein wenig frische Luft wird mir gut tun.”

Dies gesagt habend legt er die Papiere wieder zurück in das Schubfach., streckt sich noch einmal und erhebt sich dann, um seinen Mantel zu holen, denn es ist recht kühl an diesem Morgen. Nachdem er seinen Mantel angezogen hat, begibt er sich mit der Botschaft zum Stall, um sein Pferd zu holen. Und so reitet Magnus in die noch verträumt wirkende Stadt Liberheim.

Trotz des kalten Morgens und der noch recht frühen Stunde sind schon viele Menschen in der Stadt der Händler unterwegs. Langsam schreitet Magnus‘ treues Ross über die Pflasterstraßen der Stadt. Die Menschen, die ihn erblicken, begrüßen ihren Grafen freundlich, denn obwohl er sich meist rar macht, so ist er doch ein beliebter Regent. Nach einigen Minuten erreicht er einen Platz, an dem eine Ansammlung von Menschen hysterisch durcheinander redet. Einige der Stadtwachen stehen daneben und versuchen den Schilderungen des Menschen zu folgen. Eine Frau erblickt Magnus plötzlich und eilt zu ihm.

“Graf Schwarzherz, etwas schreckliches ist geschehen. Mein Sohn Ivo kam letzte Nacht nicht heim. Er ist verschwunden.”

Während sie an Magnus Mantel herumzerrt beginnt sie zu weinen und den Grafen wehmütig anzublicken. Magnus ist verwirrt, denn mit so einer Begrüßung hatte er wahrlich nicht gerechnet. Nach einige Augenblicken eilt schließlich ein Mann herbei, der die Frau beruhigt und in die Arme schließt.

“Hier bist du! Ich habe dich schon gesucht! Ich dachte wir gehen zusammen zur Stadtwache.”

Die Frau scheint jedoch unfähig zu antworten und schluchzt nur in den Armen des Mannes. Nun doch neugierig, steigt Magnus von seinem Pferd und tritt zu der Menschenmasse herüber. Alle Menschen sprechen durcheinander und eine sich wild hin und her wendende Wache versucht die Aufgeregten dazu zu bringen, nacheinander zu sprechen. Doch es scheint zwecklos. Erst als der Graf näher kommt, verstummen die Menschen und schauen Magnus an. Die Wache ist verwundert, warum nun alle schweigen, dann folgt sie jedoch den Blicken des Pulks und erblickt so auch den Grafen.

“Graf Schwarzherz, gut dass ihr hier seid. Ein wahres Chaos herrscht hier!”

“Ja, das sehe ich. Doch was ist denn geschehen?”

“Nun mein Fürst, es scheint als seien einige Kinder in der letzten Nacht verschwunden.”

“Wie können denn so einfach Kinder verschwinden?”, fragt Magnus verwundert nach.

“Ähm… Das wüsste ich auch gern…”

Verlegen kratzt sich die Wache an der Wange. Eine Frau tritt aus der Menge hervor und versucht zu erklären:

“Letzte Nacht kam meine Tochter Sira zu uns ins Schlafzimmer gelaufen. Sie hatte furchtbare Angst. Sie sagte, dass ein Mann mit einem Zylinder an ihrem Fenster stand und sie anschaute.

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Wir dachten, sie hätte einen Alptraum gehabt, beruhigten sie und brachten sie zurück ins Bett. Ich mache mir Vorwürfe… Was wenn dieser Mann wirklich an ihrem Fenster stand?”

Dann beendet die Frau ihre Erklärung und bricht in Tränen aus. Magnus jedoch schaut sie nur verwundert an, bis ein Mann aus der Menge tritt.

“Bei uns war es das selbe! Unsre Kleinen sahen eine Gestalt mit einem Hut vor ihrem Fenster stehen! Sie meinten auch die Gestalt hätte mit ihnen gesprochen!”

Magnus kratzt sich nachdenklich am Kinn und antwortet:

Mir scheint hier geht ein Krimineller um… Wir müssen wohl des Nachts mehr Wachen patrouillieren lassen.”

In der Hoffnung, die Menschen damit etwas beruhigen zu können, blickt Magnus in die Menge, doch dann meldet sich noch einmal der Mann zu Wort.

“Graf Schwarzherz, das Zimmer unserer Kinder liegt im zweiten Stock! Ein Krimineller könnte wohl kaum vor ihrem Fenster stehen!”

“Nun… das ist in der Tat…. seltsam….”

Leicht verunsichert wendet Magnus den Blick von den Menschen ab, dreht sich dann jedoch zu der Wache.

“Ich muss noch eine Botschaft nach Drakenhof entsenden, doch ich möchte mich danach im Hauptquartier der Stadtwache mit Hauptmann Berner unterhalten. Wenn ihr in seht, sagt ihm doch bitte er möge dort hin kommen.”

“Sehr wohl, mein Graf!”

Während die Wache noch salutiert, geht Magnus schon weiter, hinter ihm erschallt erneut das Gewirr aus Stimmen.

Nach dieser kleinen Unterbrechung erreicht er dann doch noch die Botenzentrale und überreicht die Botschaft mit der Bitte, dass sie so schnell wie möglich nach Drakenhof geliefert werden soll. Sie ist für Fürst van Draken und sie solle direkt ihm übergeben werden.

Nun endlich diese Aufgabe hinter sich habend, macht sich Magnus auf den Weg um sich mit Hauptmann Berner der Stadtwache zu treffen. Wer weiß, was da wieder in der Stadt los ist…

Einige Minuten später sitzen Graf Magnus und Hauptmann Berner in einem kleinen Seitenraum zusammen und besprechen die Lage.

“Nun Hauptmann, dann berichtet mir, was hier eigentlich genau vorgefallen ist.”

Der Hauptmann schweigt kurz, während er verlegen auf den Boden schaut. Dann wendet er sich jedoch wieder seinem Grafen zu und versucht zu erklären.

“Werter Graf Schwarzherz, das Problem ist, dass wir eigentlich gar nicht so genau wissen, was denn geschehen ist. Die Menschen berichten uns davon, dass ihre Kinder verschwunden sind. Sie erzählen von einer dunklen Gestalt, die in die Fenster schaut. Ich habe keine Ahnung, was genau in der Stadt los ist. Sicher ist nur, dass die Kinder verschwunden sind.”

“Ich gehe nicht davon aus, dass der schwarze Mann umgeht und kleine Kinder holt. Womöglich haben sie sich ja einen seltsamen Streich ausgedacht. Es scheinen ja nicht alle Kinder der Stadt verschwunden zu sein.”

“Nein, es sind nur ein paar.”

“Gut, dann würde ich sagen, die Wachen suchen bei Tag die Kinder und heute Nacht sollen doppelt so viele Wachen in den Straßen patrouillieren.”

Mit diesen Worten erhebt sich Magnus und weißt den Hauptmann an, ihm morgen einen Bericht über weitere Ereignisse zu entsenden. Dann verabschiedet er sich und macht sich auf den Rückweg zu seiner Residenz.

Auf dem Rückweg bemerkt Magnus, dass die Menschenmenge noch immer dort steht, wo er sie vorhin vor fand. Doch neigen die Städter oft dazu, hysterisch zu werden. Besonders wenn

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ihre Ängste mit Kindermärchen genährt werden. Das Fürstentum Draken war schon immer ein Ort des Aberglaubens…

Endlich wieder in seiner Residenz angekommen, erwartet ihn schon Adelbert mit dem Mittagessen…

Nach dem Essen verkriecht sich Magnus wieder in seinem Arbeitszimmer und sitzt grübelnd an seinem Schreibtisch. Der Gedanke an die verschwundenen Kinder sitzt in seinem Kopf. Wenngleich er nicht an Monster oder so etwas glaubt, so verwundert es ihn doch, dass es der Entführer geschafft hat, mehrere Kinder vollkommen unbemerkt zu entführen. Es muss sich um eine ganze Band handeln. Vielleicht ja Söldner aus Shaseria! Man schickte sie um wieder einmal Leid mit Leid zu sühnen. Doch irgendwie empfindet der Graf diese Idee als recht absurd, würden sie die Söldner wohl kaum nach Liberheim schicken, um dort Kinder zu entführen. Womöglich wollten die Entführer ja auch Geld für die Kinder erpressen. Die Menschen in Liberheim sind zum Großteil wohlhabende Händler. Wenn dem so sein sollte, würde er es jedoch bald erfahren. Er nimmt ein leeres Blatt Papier und beginnt darauf herum zu malen. Eine Art einfache Landkarte entsteht… da malt er seine Residenz an der Klippe und die Straße hinunter, die nach Liberheim führt und Liberheim und den Liber der durch die Stadt fließt. Dann betrachtet er so die Stadt und zeichnet einen Kreis drumherum.

“Vielleicht”, denkt er bei sich,”sollte ich doch eine Stadtmauer errichten lassen… Aber das würden die Bewohner wohl als Einengung ihrer Freiheit ansehen… Händler und Kaufleute können schon manchmal schwierig sein…”

Dann kritzelt er weiter auf dem Blatt herum, zeichnet die Brücken über den Liber, den großen Marktplatz, das Hauptquartier… und schließlich die alte Residenz Schwarzherz. Seit dem Tod seines Vaters war er nicht mehr dort. Er wollte das Vermächtnis nicht, welches ihm sein Vater vererbte und so verließ er Liberheim und lebte fortan in der Sommerresidenz der Familie. Doch wenngleich er nicht mehr in der alten Residenz leben wollte, brachte er es nicht übers Herz, das Haus zu verkaufen. Wie ein dunkler Schatten aus der Vergangenheit verfolgt es ihn und er hat nicht die Kraft sich diesem Schatten endlich zu stellen… Doch Magnus plant schon seit geraumer Zeit, sein Leben zu ändern. Er will fort von hier, fort von den Menschen, die in ihm nur einen Grafen sehen… Ein neues Leben beginnen. Vielleicht wäre der Verkauf des Hauses ja ein erster Schritt in dieses neue Leben. Erst wenn er mit seiner Vergangenheit abgeschlossen hat, kann er wirklich etwas neues beginnen. So beschließt er, am nächsten Tag einmal der Residenz einen Besuch abzustatten. Denn seither hatte niemand mehr die Residenz betreten. Lediglich die umliegende Gartenanlage lässt Magnus von der Stadt Liberheim pflegen, damit die alte Residenz, wenn sie schon keinen direkten Nutzen hat, zumindest nicht den Blick verschandelt.

In Gedanken an alte Zeiten kritzelt er weiter… den großen schwarzen Eisenzaun mit dem Eingangstor, dass das Siegel der Familie Schwarzherz trägt… die alten Eichen, welche den Weg zum Haus flankieren… den Springbrunnen, der auf dem großen Platz vor dem Haus steht…

Er gedenkt der Zeiten als er noch klein war und seine Mutter noch lebte… Viele glückliche Tage verbrachte er seiner Zeit in der Residenz und sein Vater war noch ein lebensfroher Mensch. Doch das änderte sich, als seine Mutter an einer schweren Krankheit starb. Magnus war zu der Zeit noch zu jung, um wirklich zu verstehen, was der Tod bedeutet. Sein Vater schien seitdem jedoch wie ausgewechselt. Er zeigte kaum noch eine Emotion, bis er kurz vor seinem Ende ein verbitterter und gebrochener Mann war. Wahrscheinlich wollte er nur wieder bei seiner geliebten Frau sein… Zu viele negative Dinge verbindet Magnus seit damals

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mit der Residenz und das ist wohl auch der Hauptgrund, warum er dort nicht mehr leben will. Wenn er es nun schafft, diesen dunklen Fleck, der sein Leben seitdem in Schatten hüllt, zu beseitigen, so wäre endlich der Weg zu einem neuen und erfüllten Leben frei. Eine lange nicht mehr gefühlte Euphorie durchströmt ihn von einem Moment auf den anderen. So erhebt er sich von seinem Stuhl und tritt an eines der Fenster, um ein wenig auf das Meer zu schauen. Langsam kommt Bewegung in das Wasser, es bäumt sich auf und schlägt schließlich hinab in sich selbst, dabei wieder neue Wellen freisetzend. Das Rauschen der Wellen, die gegen die Klippe schlagen ist laut genug, als dass es auch hier im Haus an Magnus’ Ohr dringt. Es ist beruhigend, wenngleich es doch von der Macht des Meeres zeugt, mit welcher Zerstörung und Tod einher gehen. Doch auch das Leben kommt aus dem Meer und es würde zugrunde gehen, wenn der blaue Leviathan dort draußen einmal nicht mehr wäre. Es ist die Dualität der Dinge, die das Leben bestimmt. Nachdenklich blickt Magnus weiter in die Ferne.

“Wie können sich die Menschen anmaßen eine Welt in Gut und Böse zu teilen, wo doch die Natur selbst ein duales Objekt ist…? Ist es nicht Torheit, ein natürliches Objekt ins Unnatürliche zu ziehen? Eines Tages werde die Menschen an ihrem Hochmut und ihrer Einfältigkeit zugrunde gehen.”

Die wenigen Wolken ziehen am Firmament entlang, gleich Schafen die über eine blaue Wiese traben. Doch während Magnus so in die Ferne schaut, kommt es ihm vor, als könne er etwas erkennen… Umrisse eines Gebirges rücken da in sein Sichtfeld… Kaum sichtbar, schemenhaft gleich Geistern auf der weiten See. Das Erblickte für eine Sinnestäuschung haltend reibt er sich die Augen und schaut erneut hin, doch noch immer ist das nebulöse Objekt in weiter Ferne zu sehen.

“Wie seltsam…”, denkt er so bei sich.

“Im Südwesten dieses Kontinents dürfte keine Landmasse sein… zumindest keine solch große…. Ich sollte das festhalten.”

Mit diesem Gedanken nimmt er sich ein Buch und legt ein Blatt Papier darauf, dann platziert er Tinte und Feder auf einem Schrank am Fenster und beginnt die Umrisse des Geistergebirges zu zeichnen….

Das Zeichnen zieht Magnus in seinen Bann und so verweilt er mehrere Stunden um Fenster, um auch jeden kleinen Gipfel, den er dort zu sehen glaubt, auf Papier festzuhalten. Die Sonne ist bereits in sein Sichtfeld gerückt und trotz ihrer veränderten Position, ist das fremde Land immer noch zu sehen. Es scheint also keine optische Täuschung zu sein. Für einen Moment hält er mit seiner Arbeit inne, um zu verschnaufen, denn er spürt das lange vor dem Fenster stehen langsam in seinen Bein und versucht sie nun durch Bewegung zu lockern. Als er damit fertig ist, blickt er erneut hinüber zu dem fremden Land am Horizont. Doch da bemerkt er etwas… Ein kleines Objekt scheint sich in den Himmel zu erheben. Es ist zu weit weg, als dass man erkennen könnte, um was sich handelt, doch es scheint als hätte es Flügel. Nachdem das Objekt hoch genug ist, entfernt es sich von der Insel… es nähert sich dem Nordkontinent. Unablässig blickt Magnus dem fliegenden Ding hinterher, doch es fliegt schnell aus seinem Blickfeld heraus. Es muss irgendwo im Norden des Kontinents gelandet sein. Nachdenklich blickt er auf seine Zeichnung…

“Ich glaube ich drehe langsam durch….”, ist der Gedanke der in seinem Kopf herumschwirrt. Und so beschließt er, erst einmal eine kleine Pause einzulegen und sich ein wenig die Beine vor dem Haus zu vertreten…

Später dann setzt der Graf die Arbeit an seiner Zeichnung fort.

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Zu später Stunde begibt er sich dann mit dem Gedanken, am nächsten Morgen einmal die alte Residenz zu besuchen, zu Bett…

Eine neue Nacht ist über Liberheim hereingebrochen. Der Himmel ist gänzlich frei von Wolken und gibt den Blick frei auf ein funkelndes Sternenmeer. Eli und ihr kleiner Bruder Koral sitzen im Garten und beobachten die Sterne. Ihr Eltern sind wohlhabende Händler und um ihr Haus erstreckt sich ein großes Parkgelände, wenngleich es nicht an die Größe der Schwarzherz-Residenz heran reicht.

“Schau Eli!”, ruft Koral ganz begeistert, mit dem Finger in den Himmel zeigend.

“Was ist denn da?”, fragt Eli verwundert, dabei das suchend, was ihr Bruder wohl entdeckt hat.

“Da schau, diese Sterne sehen aus wie ein Haus.”

“Ein Haus?”

“Ja, du musst von diesem Stern eine Linie da rüber ziehen und dann…”

Plötzlich hören sie ein Geräusch. Ein leises Rascheln in einem Gebüsch, rechts von ihnen. Erschrocken springen beide von der Wiese auf und schauen bedächtig hinüber, etwas böses erwartend, das gleich hinaus springen würde.

“Sei ganz leise Koral.”, flüstert Eli ihrem Bruder zu, “Es darf uns nicht hören.”

Koral verstummt und schaut nur zu dem Gebüsch hinüber. Da dringt erneut das Rascheln an ihr Ohr.

“Was ist das?!”, fragt Koral verängstigt, sich dabei hinter seiner Schwester versteckend.

Doch Eli schweigt und schaut nur neugierig zu der Hecke hinüber. Wieder raschelt es und man kann eine leichte Bewegung im Licht des Mondes erkennen. Die Kinder mustern ohne Unterlass die Hecke. Doch dann verstummt das Rascheln. Die Kinder lassen sich davon anfangs nicht beirren und schauen weiter hinüber, doch nachdem sich einige Minuten nichts tut, tritt Koral wieder aus seinem Versteck hervor. Eli schaut ihn erleichtert an und sagt:

“Es war wohl nur der Wind. Los, wir schauen uns wieder die Sterne an.”

Ihr Bruder nickt und beide setzen sich wieder. Als sie jedoch wieder zum Himmel aufschauen bemerken sie, das Nebel aufgezogen ist und sie die Sterne nicht mehr erkennen können. Dann raschelt es plötzlich erneut in dem Gebüsch. Beide springen erneut auf. Doch Eli will endlich wissen, was da raschelt und nähert sich der Hecke. Als sie nur einige Schritte entfernt ist, verstummt das Rascheln wieder. Sie stoppt verunsichert und schaut zu der in Nebel gehüllten Hecke. Dann plötzlich raschelt es erneut und etwas springt heraus. Eli erschreckt sich erst furchtbar, erkennt dann aber, dass es ein Eichhörnchen war, welches dort unterwegs war. Lachend geht sie zurück zu ihrem Bruder.

“Karol, es war ein Eichhörnchen. So ein kleines mit buschigem Schwanz. Das war niedlich. Und wir hatten Angst davor. Ich glaube es hatte genauso viel Angst vor uns, wie wir vor ihm.

Aber es ist so neblig geworden, dass man gar keine Sterne mehr sieht. Lass uns wieder hinein gehen.”

Mit heiterer Miene nickt Karol und die beiden gehen ins Haus.

Sie gehen zu den Eltern, die im großen Wohnzimmer sitzen. Ihre Mutter strickt gerade etwas und ihr Vater liest ein Buch. Die Mutter bemerkt ihre Kinder und schaut von ihrer Arbeit auf.

“Na Kinder, habt ihr die Sterne beobachtet?”

“Ja Mutter!”, antworten beide im Chor, dann spricht Eli weiter.

“Etwas raschelte im Gebüsch und wir hatten große Angst, aber dann haben wir gemerkt, dass es nur ein Eichhörnchen war.”

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“Ein Eichhörnchen um dieses Uhrzeit? Das ist aber komisch. Naja, es wurde sicher von jemandem aufgescheucht.”

“Aber es ist so neblig geworden, dass man die Sterne nicht mehr sehen kann.”

“Neblig?”, fragt die Mutter verwundert. Dann erhebt sie sich und blickt aus dem Fenster. Die Laternen der Straße, welche man eigentlich noch klar sehen müste, sind nun hinter einem dichten Nebelmeer verborgen und ihr Schein wirkt wie ein Licht aus einer anderen Welt.

“Es ist ja tatsächlich neblig. Das ist für diese Jahreszeit wirklich ungewöhnlich.”

Dann wendet sich die Mutter wieder den Kindern zu.

“Es ist ja ohnehin schon spät genug. Der Nebel sollte euch nur daran erinnern, dass es Zeit ist, zu Bett zu gehen. Nun geht erst einmal in das Badezimmer euch waschen.”

“Ja Mutter!”, antworten beide erneut wie im Chor. Dann gehen sie zum Badezimmer.

Dort angekommen treten beide an eine mit warmem Wasser gefüllte Schüssel. Doch dann schaut Karol verwundert zum Fenster. Seine Schwester ist durch sein Verhalten irritiert und fragt ihn, was denn los sei. Da antwortet er, dass er etwas am Fenster gesehen hat. Einen Schatten oder so etwas, das schnell vorbei huschte. Eli beginnt nun auch das Fenster zu mustern. Sie versucht etwas zu erkennen, doch draußen ist nur Dunkelheit… Ihr Blick dringt in eine undurchdringbare Wand der Nacht. Doch da scheint auch sie etwas vorbei laufen zu sehen. Doch das Licht der Lampen im Haus reicht nicht aus, damit sie erkennen kann, was da genau ist. Der Schatten taucht jedoch nicht mehr auf und so beruhigt sie ihren Bruder und taucht ihre Hände in das Wasserbecken, um sich das Gesicht zu waschen. Doch da bemerkt sie, dass Karol wieder zum Fenster starrt, diesmal jedoch recht verängstigt.

“Da, sch…. sch… schau mal!”, bringt Karol nur bruchstückhaft heraus.

Eli blickt wieder zum Fenster, kann jedoch nichts erkennen.

“Schau genau hin… Da… schau…. schau genau hin…”, stottert Karol.

Durch die Worte ihres Bruders verängstigt, blickt sie genauer hin. Und als sie so eine Weile in das Dunkel starrt, bemerkt sie, dass dort eine Fläche etwas heller zu sein scheint. Langsam erkennen ihre Augen etwas…. Umrisse…. die Umrisse eines Mannes, der einige Meter vom Fenster entfernt zu stehen scheint, dringen nun langsam in ihren Verstand. Der Umriss bewegt sich nicht…. auch scheint es, als hätte er einen Hut auf, denn die Kopfform wirkt recht seltsam.

Nun stottert auch Eli:

“Los, w…w… wir holen Mama und P…. P… P… Papa, die werden den verjagen…”

Kaum hat sie dies ausgesprochen, dreht sie sich um und will zu ihren Eltern laufen. Karol wendet sich zu ihr und schaut ihr nach. Sie läuft geradewegs zur Badezimmertür, doch diese fällt plötzlich mit einem lauten Knall zu. Voller Schrecken weiten sich Elis Augen, als sie sieht, dass ihr Fluchtweg versperrt ist. Doch sie kann nicht mehr stoppen und rennt mit voller Wucht gegen die Tür. Der Aufprall lässt sie benommen umfallen. Karol eilt sofort zu seiner Schwester, um ihr zu helfen. Langsam steht sie mit Karols Hilfe wieder auf, da spricht eine sanfte Stimme zu ihnen, welche von draußen zu kommen scheint:

“Aber aber meine Kinder… Ihr wollt doch nicht etwa wegrennen, ohne mir Guten Tag gesagt zu haben… Wobei… mittlerweile sollte man vielmehr Guten Abend sagen. Hahaha!”

Die Kinder wenden sich dem Ursprung der Stimme zu und erblicken die Umrisse des Mannes, doch er steht nun näher am Fenster, so dass man nun deutlicher seine Umrisse erkennen kann. Er scheint einen langen Mantel zu tragen und auf seinem Kopf sitzt ein Zylinder. Doch er ist noch immer zu weit entfernt, als dass man sein Gesicht erkennen könnte. Ein lautes Klopfen gegen die Badezimmertür lässt die beiden aber schnell wieder herumfahren. Von draußen dringt die Stimme der Mutter:

“Kinder! Was ist da drin los? Warum ist die Tür verschlossen? Macht sie sofort wieder auf!”

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Karol schreit sie voller Angst an:

“Mutter! Draußen vor dem Fenster steht ein böser Mann, der will uns holen!”

“Wartet, ich schicke euren Vater nach draußen, der jagt den fort.”

Dann vernehmen die beiden Schritte welche sich entfernen. Doch erneut ertönt die sanfte Männerstimme von draußen:

“Böser Mann…? Also nein… Ich verbitte mir solche Vorurteile… Schließlich tun wir alle nur, was man uns sagt….”

Die Kinder blicken wieder zum Fenster. Der Mann steht noch ein Stück näher am Fenster. Als sie seinen Kopf mustern, bemerken sie das leichte Leuchten seiner gelben Pupillen, die sie durchdringend anstarren. Plötzlich blickt der Mann zur Seite und verschwindet dann im Dunkel der Nacht.

“Verschwinde sofort von meinem Land!”, tönt die Stimme des Vaters von draußen. Seine dunkle Silhouette bewegt sich am Fenster vorbei, während eine erneute Drohung gegen den Fremden aus seinem Munde dringt. Dann herrscht einen Moment Stille. Die Kinder wollen nachschauen, was da draußen vor sich geht. Eli nimmt ihren Bruder an die Hand und tritt zum Fenster. Sie schauen hinaus, können jedoch nichts erkennen. Eli ist jedoch begierig darauf, zu wissen, wie ihr Vater den Fremden verjagt, und nähert sich mit ihrem Gesicht der Fensterscheibe… Plötzlich haut eine Hand von außen gegen die Scheibe! Eli erschrickt und stolpert zurück. Karol stellt fest, dass die Hand sehr blass und faltig ist und die Finger nicht normal enden, sondern eine Art dicker Krallen aus ihnen heraus ragen, ähnlich denen einer Katze. Langsam tritt wieder der Mann vor die Scheibe und durchbohrt die Kinder mit seinem Blick.

“Kinder… Kinder… Das hätte auch friedlich enden können…”

Langsam kratzt er an der Fensterscheibe entlang und erzeugt so ein ohrenbetäubendes Quietschen. Dann legt er die Hand auf das Glas wie zuvor. Die Kinder wundern sich, was er da tut, doch dann beginnen sich Risse durch das Fensterglas zu ziehen bis es schließlich splittert. Ein kalter Windhauch dringt in das Zimmer und lässt alle Lampen erlöschen.

Dunkelheit umhüllt die Kinder. Sie können nichts sehen, doch die Schritte des Fremden kommen näher…

Der neue Tag ist längst erwacht, begann jedoch ohne besondere Ereignisse in der Residenz des Grafen. So will er sich nach dem Frühstück wieder einmal auf den Weg in die Stadt machen, heute jedoch um einmal wieder die alte Residenz zu begutachten, welcher er schon seit Jahren keinen Blick mehr zugeworfen hatte. Gerade ist er am kleinen Stall der Sommerresidenz um sein Pferd zu satteln, da erreicht ein Bote aus der Stadt das Gelände. Magnus eilt sofort zu ihm und fragt, welche Kunde er denn bringt. Der Bote erklärt, dass Hauptmann Berner ihn schickt. Die Lage sei ernst, denn letzte Nacht verschwanden trotz Wachverstärkung wieder viele Kinder. Des weiteren konnten die zuerst vermissten nicht aufgefunden werden. Sorge macht sich in Magnus‘ Gedanken breit. Wie konnten die Entführer bei einer doppelten Wache des Nachts wieder Kinder entführen? Es ist wahrlich eine seltsame Angelegenheit. Der Verdacht, dass Teile der Wachen zu den Entführern gehören könnten, kommt ihm in den Sinn.

Könnte so etwas tatsächlich wahr sein?

Nachdem er gehört hat, was der Bote zu melden hat, entlässt er ihn und macht sich umgehend auf den Weg nach Liberheim um dort noch einmal Hauptmann Berner zu treffen.

Als er gerade in die Stadt herein reitet, sieht er den Hauptmann umringt von einer Gruppe aufgebrachter Bürger vor sich auf der Straße stehen. Er stoppt sein Pferd, sitzt ab und sieht sich die Sache aus der Nähe an. Dem Geschrei der Menschen nach, geht es wieder um die

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verschwundenen Kinder. Die Einwohner beschweren sich, wie es möglich sein kann, dass trotz solch vieler Wachmannschaften noch immer Kinder entführt werden können. Beschwichtigend redet der Hauptmann auf die Städter ein, doch es scheint als würden sie ihm gar nicht wirklich zuhören. Als Berner den Grafen erblickt, ordert er zwei Wachen, sich um die aufgebrachten Menschen zu kümmern. Magnus bedeutet ihm, sich ein paar Schritte von den Menschen zu entfernen, damit sie nicht mithören können.

“Nun Hauptmann, ist es wieder wie in der Nacht zuvor?”

“Ja, es tut mir Leid Graf Schwarzherz, doch es sind wieder Kinder verschwunden. Zu allem Übel wurde auch ein angesehener Bürger ermordet vorgefunden. Seine Frau berichtete, dass ein Fremder wohl die Kinder im Badezimmer beobachtete und er hinaus ging, um den Fremden zu verjagen. Dieser muss ihn wohl getötet haben. Wir gehen davon aus, dass der oder die Entführer eine Art dressierten Kampfhund oder etwas in der Art haben, denn die Wunden an dem Mann sehen aus, als hätte ihn etwas gekratzt und ganze Fleischbrocken wurden ihm aus dem Leib gerissen. Kein schöner Anblick….”

Der Hauptmann versinkt in Schweigen während er betroffen zu Boden blickt.

“Hauptmann, mir kam ein Verdacht… Ich will euren Leuten nicht ihren Wert absprechen, doch ist es wirklich fragwürdig, dass trotz aller Bemühungen keiner die Entführer überhaupt sieht. Ich glaube es wäre durchaus möglich, dass sich die Entführer unter euren Leuten befinden oder sie zumindest mit ihnen zusammen arbeiten.”

Nun blickt der Hauptmann erschrocken auf, denn dass kann er sich beim besten Willen nicht vorstellen.

“Versteht mich bitte nicht falsch, ich bin mir da ja nicht sicher, doch es wäre ja durchaus möglich. Ich empfehle, dass die Wache ab sofort in neuen Gruppen patrouillieren, somit könnten eventuelle Verräter nicht mehr richtig arbeiten.”

“Sehr wohl Graf Schwarzherz, ich werde dies veranlassen.”

Nachdem Magnus seine Idee kund getan hat, entfernt er sich und begibt sich zum eigentlichen Ziel seiner Reise…

Vor ihm versperrt das alte Eisentor, welches das Wappen der Familie Schwarzherz ziert, den Weg auf das Gelände. Ein schweres Schloss an einer Kette soll ungebetene Besuche außerhalb des Geländes halten. Allein der Anblick des Tores genügt, um in Magnus ein ungutes Gefühl zu wecken. Zitternd kramt er den Schlüssel für das Schloss aus seiner Manteltasche. Er blickt hinab auf seine Hände, welche kaum imstande zum Öffnen des Schlosses zu sein scheinen. Dann dreht er den Schlüssel und es macht Klick. Die Kette fällt zum ersten Mal seit langer Zeit herab und entbindet die beiden Torflügel von ihrer Aufgabe. Als wäre eine erste Barriere durchbrochen, atmet der Graf erleichtert auf und steckt den Schlüssel wieder behutsam in seinen Mantel. Dann drückt er den rechten Torflügel auf, doch die Jahre taten ihm keinen Gefallen und so ist es Magnus nur mit Anstrengung möglich den Flügel zu bewegen. Quietschend öffnet er sich, als würde er mit aller Anstrengung versuchen, den Grafen draußen zu halten. Vielleicht hätte er den kleinen Hintereingang nutzen sollen, durch den die Gärtner das Gelände betreten… Doch schließlich ist das Tor besiegt und der Graf führt sein Pferd am Zügel hinter sich her, den langen Weg entlang, welcher von den alten Eichen flankiert wird. Sie waren schon alt, als Magnus noch in jungen Jahren unter ihnen herum tollte. Der Brunnen auf dem großen Platz vor dem Haus funktioniert schon seit Jahren nicht mehr. Es war ihm auch immer recht egal, denn es würdigte ja eh kaum einer das alte Haus eines Blickes. Magnus lässt sein Ross draußen, denn im Stall ist ohnehin kein Heu mehr. Und das Pferd ist eine treue Seele und würde schon nicht ausbüchsen. Vor dem Hauptportal verweilt Magnus erneut, als hätte sich eine neue Barrikade vor ihm aufgetan,

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welche er nun durchbrechen muss. Vorsichtig legt er seine Hand auf das goldene Relief des rechten Portalflügels und fühlt, ob es sich noch anfühlt wie damals. Es hat durch das Wetter an Glanz verloren, doch es ist noch immer das Portal, dessen Relief er damals immer interessiert gemustert hat. Dann nimmt er einen kleinen ebenfalls goldenen Schlüssel aus der Tasche, in der schon der andere Schlüssel seinen Platz hat. Er betrachtet ihn nachdenklich.

Was wird ihn wohl hinter diesem Wall der Vergangenheit erwarten?

Wird er endlich mit der Vergangenheit abschließen können?

Oder werdeb ihn die alten Schatten wieder einholen und schließlich ganz auffressen?

Doch eins ist sicher, er kann es nicht heraus finden, wenn er hier draußen herumsteht und so schiebt er den Schlüssel in das Schloss und öffnet das Portal. Eine muffige, staubige Luft weht ihm entgegen und es scheint, als würde er nun ein Zeitentor durchschreiten. Dunkelheit breitet sich vor ihm aus und es dauert einen Moment, bis seine Augen sich an die spärlichen Lichtverhältnisse gewöhnt haben. Unsicher tritt er in die große Eingangshalle, welche sich über zwei Etagen erstreckt. Auf der linken und rechten Seite führen Treppen hinauf zum Gang der zweiten Etage. Dem Eingang gegenüber befindet sich eine schwere zweiflügelige Eichentür, welche in den Bankettsaal führt. Auf der linken Seite führt eine Tür zum Haushaltsbereich, auf der rechten Seite zu den Unterkünften der Bediensteten. An den Seiten stehen einige Zierschränkchen, auf ihnen sind Zierteller und längst vertrocknete Blumensträuße zu finden. Eine dicke Staubschicht erstreckt sich über alles hier im Haus, die Möbel, den Boden, die Treppen… Und mit jedem Schritt wird er aufgewirbelt und trübt die wenigen Lichtstrahlen, die durch die Fenster von draußen herein dringen. Langsam und mit bedächtigem Schritt geht Magnus zur linken Treppe. Mit seiner Hand fast er an das dunkle Holzgeländer. Es ist staubig, doch es fühlt sich noch an wie früher… Dann richtet er seinen Blick nach oben zu den alten Gemälden, welche dort hängen. Ein Knarren fährt aus jeder Stufe, welche Magnus Schritt trifft. Oben angekommen mustert er eines der dort hängenden Bilder. Ein stolz blickender Mann mit einer Halbglatze und einem grauen Schnurrbart ist darauf zu sehen. Es ist Magnus‘ Großvater, welcher auch starb, als Magnus noch recht jung war. Doch er starb aufgrund seines hohen Alters… Im Haus seiner Geburt schlief er eines Nachts einfach ein und erwachte nicht mehr. Magnus wendet sich nach rechts und blickt über die ebenfalls dunkle Holzballustrade nach unten, so wie er es immer in seiner Kindheit tat, wenn der Vater wieder Gäste geladen hatte und sie von hier oben begrüßte. Inmitten der beiden Treppen befindet sich eine Tür. Magnus öffnet sie und tritt in das Besucherzimmer. Hier warteten einst wichtige Gäste auf seinen Vater. Hier besprachen sie auch immer wichtige Regierungsangelegenheiten. Er blickt sich um… in der Mitte des Raumes steht der kleine Tisch mit einer Öllampe. Diese entzündet Magnus mit einem Zündholz und kann nun wesentlich mehr erkennen: Rechts an der Wand das rot gemusterte Sofa, diesem gegenüber der Kamin, links vom Kamin ein Regal voller Bücher. Als Magnus eines heraus nimmt und hinein schaut, verraten ihm die vielen Zahlen, dass es wohl alles Rechnungsbücher sein müssen. Diese wecken jedoch nicht sein Interesse und so stellt er das leicht modrig riechende Buch wieder zurück. Dann nimmt er die Lampe und geht durch eine Tür gegenüber des Einganges. Er steht in einem langen Flur, auf der linken und rechten Seite sind allerlei Türen, dahinter verschiedenste Zimmer deren Funktion er schon lange vergessen hat. Sein Ziel jedoch ist die Tür am Ende des Ganges. Langsam schreitet er den Gang entlang, vorbei an den Türen und weiteren Zierschränkchen, die hier überall im Haus die nutzlose Grundfläche füllen. Endlich erreicht er die Tür, öffnet sie und tritt in das Arbeitszimmer seines Vaters. Hinter sich schließt er die Tür wieder. Andächtig blickt er sich um… Dieser Raum diente auch als Bibliothek und so stehen vor alle freien Wänden Regal und Schränke, welche gefüllt mit unzählbar vielen Büchern sind. Zu seiner Linken befindet sich eine weitere Tür zu einem

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Raum nicht mehr gekannter Funktion. Die Fenster, welche die einzig schrankfreie Zone darstellen, lassen etwas Licht herein, doch sie sind verschmutzt und so genügt es nicht wirklich um Genaueres zu erkennen. Zwischen den zwei großen Fenstern befindet sich ein Kamin. Magnus stellt fest, dass noch unverbrauchtes Feuerholz darin liegt und entzündet ein Feuer.

“Seltsam, dass hier noch Feuerholz zu finden ist…”, denkt er bei sich.

Die Lampe platziert er auf einem der Schränkchen und bläst sie aus, denn es ist nicht mehr viel Öl darin. Licht sollen ihm die Kerzen, welche halb herunter gebrannt auf dem Schreibtisch stehen, schenken. Er entzündet sie und bemerkt, dass der Schreibtisch, welcher sich links vom Kamin befindet, regelrecht grau ist. Er pustet kräftig darüber, muss dann jedoch unter einigem Husten feststellen, dass das eine schlechte Idee war. Doch wenngleich einiger Staub seinen Weg in seine Lungen suchte, ist eben jener vom Schreibtisch entfernt worden. Dann zieht er den alten Polsterstuhl zurück und klopft auch aus diesem den Staub. Als er mit dem Ergebnis zufrieden ist, nimmt er am Schreibtisch Platz und lässt seinen Blick über die unter einer Staubschicht versteckte Vergangenheit, welche sich um ihn herum ausbreitet, schweifen. Damals saß sein Vater oft hier und stöberte in allerlei wertvollen Büchern. Magnus war oft hier, doch hatten ihn damals die alten Werke nicht interessiert. Doch nun, da er so dort sitzt und nur erahnen kann, was hier alles an Wissen steht, beschließt er einmal ein wenig die Bücher zu begutachten. Er erhebt sich und geht zu einem Regal, dort wischt er wieder den Staub ein wenig weg und liest auf den Buchrücken allerlei Titel und Autoren von denen er manche kennt, viele jedoch nicht. Doch es scheinen nur Romane zu sein und jene wecken nicht die große Leselust in ihm. So geht er weiter zum nächsten Regal und prüft die Bücher. Hier stehen Geschichtsbücher herum, welche interessant sein mögen, doch auch das ist nicht die Überraschung, die Magnus sucht. Etwas besonderes ist es, was er eigentlich zu finden hofft, denn einmal konnte er einen Blick in ein Buch werfen, als der Vater das Zimmer verließ. Da standen allerlei absonderliche Dinge über komische Wesen und Monster geschrieben. An sich nichts besonderes, doch der Vater jagte ihn vom Schreibtisch fort, als er ihn erblickte. Mit diesem Buch musste es doch etwas auf sich haben. Magnus geht zum nächsten Regal, doch auch hier findet sich nichts besonderes. Frustriert darüber, dass er nicht findet, was er begehrt, seufzt er laut und blickt sich im Zimmer um. Dann jedoch fällt ihm im Flackerlicht des Kamins ein Schrank auf, der verschlossen ist. Hinter seinen Glastüren sind jedoch ebenfalls Bücher zu sehen. Magnus geht zu eben jenem Schrank hinüber und versucht ihn zu öffnen, doch er ist verriegelt. Ein kleines Schlüsseloch gibt ihm einen Hinweis, wie er denn in den Besitz der Bücher im Inneren kommen könnte.

“Ein Schlüssel…. wo könnte jener sein….”, denkt er , sich dabei fragend im Raum umblickend.

Den Schreibtisch musternd, überlegt er ob er vielleicht dort drin ist. So geht er hinüber und sieht alle Schubfächer durch, in denen sich hauptsächlich Papiere und Schreibutensilien befinden, jedoch kein Schlüssel. Doch unter einigen Blättern kann er einen wunderschönen Dolch finden. Zwar ist Magnus verwundert, so etwas im Schreibtisch zu finden, aber wer weiß schon, wofür sein Vater ihn brauchte. Da eben jener aber keine Verwendung mehr dafür hat, nimmt Magnus den Dolch aus dem Fach und legt ihn mit dem Vorhaben, ihn mit nach Hause zu nehmen, auf den Schreibtisch. Nun hat er zwar eine Stichwaffe, aber den Schrank bekommt er damit auch nicht auf. Ein Geistesblitz ereilt den Grafen jedoch plötzlich und es kommt ihm in den Sinn, dass in der Küche ein Schlüsselbrett sein müsste, an dem die Schlüssel für alle Zimmer hängen. Vielleicht hatte sein Vater den Schrankschlüssel ja dort aufbewahrt. Mit dem Plan, der Küche einen Besuch abzustatten, entzündet Magnus wieder die Öllampe und geht den Weg zurück in die Haupthalle und von dort in den Westteil des

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Erdgeschosses, in dem sich der Haushaltsbereich befindet. In der Küche angekommen bemerkt Magnus direkt einen widerlichen, süßlichen Geruch der in der Luft liegt. Nicht sehr stark, aber doch gut wahrnehmbar. Ein Tier musste sich ins Haus verirrt haben und hier irgendwo verendet sein… Das würde den Geruch erklären. Doch eigentlich ist die Duftnote der Küche nicht der Grund, warum er hier ist, und so geht er an allerlei Tischen, auf denen immer noch Kochutensilien liegen, vorbei und findet schließlich an einer Wand ein kleines unscheinbares Schlüsselbrett aus Holz. Daran hängen verschiedene größere Eisenschlüssel, welch wohl für die Türen des Hauses sind, doch auch ein kleiner Schlüssel hängt versteckt dazwischen. Magnus nimmt ihn ab und mustert ihn. Als er zu dem Schluss kommt, dass es sich wohl tatsächlich um das gesuchte Objekt handelt, packt er ihn vergnügt ein. Dann schaut er sich noch ein wenig in der Küche um und findet auf einer Theke eine Flasche Wein samt Korkenzieher. Erfreut über den Fund dreht er den Korkenzieher in den Korken der Flasche und klemmt sich eben jene unter den linken Arm. Eines der Fenster hier hat ein Loch und eine frische Brise weht herein und der Geruch dringt nun stärker in Magnus Nase. Angewidert verlässt er die Küche und geht zurück ins Arbeitszimmer. Dort angekommen löscht er erst die Öllampe und testet dann den Schlüssel aus. Er passt und öffnet den Schrank. Aufgeregt mustert Magnus die Bücher und findet allerlei Titel die ihn erschaudern lassen. Da geht es um Mörder und verbotene Religionen und eines der Bücher trägt die Aufschrift:

“Wesenheiten unserer Welt”

Ein dicker Wälzer mit einem roten Ledereinband kommt zum Vorschein, als Magnus das Buch herauszieht. Er trägt es zum Schreibtisch hinüber und lässt es mit einem dumpfen Schlag auf die Tischplatte fallen. Dann entfernt er den Korken aus der Weinflasche und prüft am Geruch, ob jener denn noch genießbar ist. Ein fruchtiger Geruch steigt ihm in die Nase und so beschließt er einen Schluck zu nehmen. Nachdem er den Wein als köstlich befunden hat, setzt er sich und öffnet im flackernden Kerzenlicht das Buch. Die Seiten sind vergilbt und ein muffiger Duft entströmt ihnen. Das Buch versteckt sein Alter wahrlich nicht. Ziellos blättert er im Buch herum und liest von seltsamen Wesen, von kleinen Feen, vom geheimnisvollen Elfenvolk… doch nichts davon wirkt auf ihn sonderlich spannend. So liest er meist kaum mehr als den Namen, betrachtet einige der Zeichnungen und blättert weiter. Nach einiger Herumblätterei findet Magnus das Kapitel:

“Die Feinde im Inneren – Von Wesen welche uns näher sind als wir denken”

Er nimmt noch einen Schluck aus der Flasche und blättert weiter, bis ihn eine Zeichnung erschaudern lässt. Es ist die Zeichnung eines Wesens, dass man nach den Inschriften einer alten Naturreligion “Meeth” nennt, was übersetzt “Menschenfresser” bedeutet. Magnus mustert die grausige Zeichnung, die ein faltiges abstoßendes Gesicht zeigt, welches den Leser regelrecht anzugrinsen scheint. Spitze unsymmetrisch ungeordnete Zähne ragen aus dem Maul und die Augen wirken hell. Doch ist die Zeichnung nur mit Tusche gezeichnet worden und ohnehin nur auf einigen Erzählungen beruhend. Das Interesse des Grafen ist dennoch geweckt und so beginnt er den Text zu diesem Wesen zu lesen.

Diese Wesen sollen angeblich etwa die Größe eines erwachsenen Mannes haben und ein einzelgängerisches Leben führen. Die alten Götter Abyss und Atla sollen sie aus Hass darüber erschaffen haben, dass Aera und Agra die Menschen mehr liebten als sie. Nachdem ihre erste Schöpfung, die Orks, nicht so funktionierte, wie sie es erhofften, erschufen sie die Meeth, mit einem ähnlichen Aussehen, wie die Menschen, die sie so hassten. Doch ihr Hass bewirkte, dass ihre neuen Kinder abscheuliche Kreaturen wurden. Ihr Gesicht ist faltig, gleich dem eines alten Mannes, ihre Zähne sind schief und krumm und von unterschiedlicher Länge, ihre Augen liegen mehr im Kopf, als bei einem Menschen und ihre Nasen sind spitz und lang. Ihr Körper ähnelt anatomisch dem eines Menschen, sie haben Arme und Beine und auch die

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Proportionen ähneln sich, doch ihre Finger sind lang und knochig und enden in spitzen Krallen. Sie sind geschlechtslose Wesen und ihre Körper haben keine Haare. Trotz ihres abscheulichen Äußeren sind sie intelligent und besitzen meist sehr sanfte Stimmen. Manche besitzen männliche, manche weibliche Stimmen. Die Meeth ernähren sich von Menschenfleisch, denn die Vernichtung eben jener Art, war ihre Bestimmung. Doch durch ihren Intellekt entwickelten die Meeth einen Sinn für Ästhetik und stellten fest, dass sie abscheulich aussahen. Dies führte dazu, das sie sich meist nur im Dunkeln bewegen, sich tagsüber in einem Unterschlupf verstecken und erst des Nachts auf Jagd gehen. Sie zerstören Spiegel, wenn sie sie erblicken und weichen reflektierenden Dingen aus, denn sie hassen ihren eigenen Anblick. Im Laufe der Zeit, lernten die Meeth auch, dass ein erwachsener Mensch schwer zu erlegen war und so begannen sie irgendwann sich nur noch Kinder zu holen, die nicht mehr als wehrlose Opfer waren. Und ohnehin soll ihr Fleisch ihnen besser munden. Auch wenn sie, im Gegensatz zu den Orks, den Menschen ähneln, tragen auch sie die Male ihre Väter. Ihre Augen leuchten gelb wie Abyss feurige Aura und sie ziehen immer eine dichte Nebelwolke hinter sich her, die Atla ihnen als Hilfe für ihre Jagd schenkte.

“Wahrlich ein unheimliches Volk.”, denkt Magnus so bei sich und nimmt noch einen tiefen Zug aus der neben dem Buch befindlichen Weinflasche. Der Graf verträgt nicht viel vom Teufel Alkohol und so zeigen sich bei ihm erste Auswirkungen des süffigen Getränks. Eine leichte Müdigkeit erfasst ihn. Nun seiner Konzentration beraubt, beschließt er sich ein wenig auszuruhen. Langsam beginnt sich die Welt um ihn zu drehen und er ist kaum mehr in der Lage sich zu erheben. So beschließt er sich ein wenig auf die staubige Holzplatte des Schreibtisches zu legen. Den Kopf auf die Arme gelegt entschlummert der Graf sanft der Realität…

Ein seltsamer Traum spielt sich in seinem Kopf ab…

Der Fürst bewegt sich in fremden Ländern umgeben von Menschen und Kulturen die er noch nie zuvor sah…

Er ist fasziniert…

Doch schnell reißt ihn die Realität aus seiner Träumerei.

Nur verschwommen nimmt der Graf die ersten Bilder war, als er seine Augen wieder öffnet. Das flackernde Licht des Kamins, der staubige Schreibtisch…

Er erinnert sich wieder, dass er in der alten Residenz ist. Die offene Flasche Wein betrachtend, stellt er fest, dass jenem wohl mehr Alkohol innewohnt, als er erwartet hatte. Noch etwas benommen lehnt er sich entspannt zurück und betrachtet das vor sich liegende Buch. Doch dann bemerkt er ein leises Pochen… es wird langsam lauter…. als es nah genug ist, erkennt der Graf, dass es Schritte im Raum zu seiner rechten sein müssen. Verwundert wendet er sich der Tür zu, die zu eben jenem Nebenraum führt.

“Wer sollte dies sein…?”, ist der Gedanke der nun in seinem Kopf herumschwirrt. Die Schritte kommen näher…

Poch… Poch… Poch… Doch kaum, dass sie die Tür erreicht haben, verstummen sie.

“Sollte dies ein Bandit sein? Wer sonst sollte in diesem Haus herumschwirren?”

Bei einem flüchtigen Blick zum Fenster bemerkt der Graf, dass er wohl recht lang geschlafen haben muss, denn die Nacht ist bereits hereingebrochen.

“Wer zum Teufel ist das….? Um diese Urzeit in diesem Haus….”

Langsam beginnt der Graf mit sich selbst zu reden. Doch die Sache wird ihm unheimlich. Er erhebt sich langsam von seinem Stuhl und nimmt, ohne darüber nachzudenken, das Buch in seine Hände. Den Blick nicht von der Tür abwendend geht er langsam hinüber zu der Tür

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durch die er kam. Misstrauisch wartet er darauf dass die Schritte wieder ertönen, doch er kann nichts vernehmen… nur das Knacken des Holzes im Kamin dringt an sein Ohr. Doch da…. ein leises Geräusch dringt von links an sein Ohr. Voll Schreck bemerkt er bei der Suche nach der Ursache, das selbige die Türklinke jener Tür ist, durch die er eben noch zu flüchten suchte. Langsam bewegt sie sich nach unten…. Voll Schreck weicht der Graf zurück, nun auf jene Tür starrend. Als er wieder auf Höhe des Schreibtisches angekommen ist, beginnt sich die Tür leise knarrend zu öffnen. Der erste Spalt in den Flur ist zu sehen, doch nur das Dunkel des Flures erstreckt sich vor seinen Augen, doch als die Tür sich weiter öffnet, werden erste Umrisse erkennbar. Eine graue faltige Hand liegt auf der Türklinke, herausragend aus einem dunkelbraunem Stoffärmel. Dann ist die Tür gänzlich geöffnet, doch derjenige, der sie öffnete, steht noch immer im finsteren Flur.

“Wer seid ihr?!”, schreit Magnus dem Fremden an, doch dieser zeigt keine Regung. Im schwache Schein des Kamins kann Magnus nun erkennen, dass der Fremde einen Zylinder trägt. Doch als sein Blick den des Fremden trifft, gefriert ihm das Blut in den Adern… Leuchtend gelbe Augen starren die seinen an.

“Das… kann nicht sein….”, flüstert er sich selbst zu, während sich seine Pupillen weiten.

Nun über den Effekt seines Erscheinens zufrieden tritt die Gestalt in den Raum und gibt ihr wahres Äußeres preis. Der Graf ist entsetzt, als er in eben jene Fratze zu blicken scheint, die ihn schon aus dem Buch anlachte.

“Was zum…?!”, ruft er nun laut. Doch die unheimliche Kreatur grinst in nur weiter mit dem durchdringenden Blick an, der dem Fürsten den Verstand zu rauben scheint. Magnus steht wie eingefroren neben dem Schreibtisch, mit aller Kraft das Buch umklammernd. Er will flüchten, doch der durchdringende Blick dieses Monsters scheint ihn zu lähmen. Dann beginnt es langsam auf Magnus zu zu gehen und nur knapp kann dieser der krallenbewehrten Hand entgehen, die ihn zu packen sucht. Bei seiner Fluchtbewegung stolpert er einige Schritte zurück und spürt noch das Fenster an seinem Rücken, bevor es unter dem Schwung seiner Bewegung zerbirst und er in die Tiefe stürzt. Er schlägt hart auf dem Rasen hinter dem Haus auf und ist nicht mehr fähig sich zu bewegen. Nur schwach kann er das grinsende Gesicht des Wesens sehen, dass von oben aus dem Fenster zu ihm hinab schaut. Dann nähern sich jedoch Schritte und er kann Stimmen vernehmen. Es scheint man hat ihn hinab stürzen sehen. Langsam verschwimmt die Welt vor seinen Augen, während er, noch immer das Buch umklammernd, nur einen Gedanken hat:

“Hilfe…”

Dann versinkt die Welt um ihn in Schwärze…

Langsam schreitet der Graf durch die ihn umgebende Finsternis. Sehnlichst wünscht er sich, seinen Schritt beschleunigen zu können, doch die Gesetze dieses Reiches halten ihn fest. Nur mühsam kommt er überhaupt voran… Es ist eine nur schwach in der Entfernung erkennbare Gestalt, die das Ziel seines Bestrebens ist. Doch auch mit langsamen Schritt kommt er der für ihn so wichtigen Gestalt näher. Es ist ihm nicht wirklich möglich mehr als nur die Umrisse dieses Frauenkörpers zu sehen, dennoch scheint er zu wissen, um wen es sich handelt…

Dann, er hat sie fast erreicht, wendet sie sich von ihm ab und entfernt sich mit einer Geschwindigkeit, die er nicht verfolgen kann… Die Jagd nun aufgegeben habend, sinkt der Graf auf die Knie und bringt nur einen leisen Seufzer über seine Lippen:

“Mutter…”

“Ah ihr seid wieder bei Bewusstsein, Mylord.”

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Nur schwach kann der Graf die ihn umgebenden Eindrücke wahrnehmen, als Adelberts ruhige Stimme an sein Ohr dringt.

“Wo bin ich…? Und was ist geschehen…?”

Nur leise verlassen die Worte Magnus Mund.

“Ihr seid in eurem Schlafgemach, Mylord. Die Stadtwache fand euch bewusstlos auf dem Grundstück der alten Residenz.”

Während Adelbert erklärt nimmt er einen Lappen von Magnus’ Stirn und wäscht ihn in einer kleinen auf dem Nachtschränkchen befindlichen Schüssel aus.

“Ja… Ich… erinnere mich….”

Suchend blickt der Graf sich um.

“Adelbert, ich hatte doch ein Buch bei mir… Wo ist es…”

“Ich habe mir erlaubt, es auf euren Schreibtisch im Arbeitszimmer zu legen. Wenn ihr mich entschuldigt Mylord. Ich werde dem Medikus Bescheid geben, dass ihr erwacht seid.”

Die Worte beendet habend tritt der Diener hinüber zur Tür und öffnet sie, als Magnus ihn mit seinen Worten noch einmal stoppen lässt.

“Wie… Wie lange habe ich geschlafen…?”

Der Diener wendet sich dem Grafen zu und sagt nur:

“Mylord pflegte drei Tage durchgehend nicht erwachen zu wollen.”

Dann tritt er hinaus und schließt die Tür.

Nun wieder zu sich gekommen begibt sich der Graf in eine sitzende Position und blickt im Zimmer umher, welches nur vom warmen Licht der Öllampe auf dem Nachtschränkchen erhellt wird.

“Dieses Licht… Es ist wie… dort… Ich las gerade… Und dann kam dieses… Ding hinein.”

Die Erinnerung an die Kreatur, die den Raum betrat, lässt den Grafen erschaudern. Noch jetzt spürt er dieses leere Gefühl, welches der durchdringende Blick dieses Wesens in ihm erzeugte.

“Was war das nur für ein Wesen…. Es glich jenem, welches ich in dem Buch sah… Es war sicher nur eine Einbildung…… Aber, warum wurde ich dann außerhalb des Hauses gefunden? Nein, es wahr… real….”

Ein kalter Schauer läuft ihm den Rücken hinab und ein seltsames Gefühl des Kälte macht sich in seinem Körper breit. Furchtsam wendet er seinen Blick zum Fenster auf der linken Seite. Nicht viel kann er erkennen, denn es ist Nacht und in jenem Winkel kann er kein Licht draußen sehen. Vielmehr verliert sich sein Blick in der Schwärze der Nacht… Doch da… Ihm ist, als würde sich draußen etwas bewegen. Vor dem Fenster befindet sich der Balkon, doch wer sollte dort umher irren? Die Sinne des Grafen schärfen sich, als er mit aller Kraft versucht etwas zu erkennen. Und wieder… Als würde sich ein Schatten vor dem Fenster bewegen… Leise hört er das Rauschen des Windes… Seine Pupillen weiten sich, um jenen, der dort sein mag, zu erkennen.

Doch dann öffnet die Tür und der Graf fährt vor Schreck herum, nur um zu erkennen, dass Adelbert mit dem Medikus in der Tür steht. Als er die nicht vorhandene Gefahr ausmacht, beruhigt sich auch wieder das durch den Schreck in Wallung geratene Blut in seinen Adern. Der Medikus stellt seine Tasche bei Seite und platziert einen Stuhl neben dem Bett, auf dem er Platz nimmt. Adelbert verlässt das Zimmer und schließt leise die Tür.

“Wie ich sehe geht es euch besser.”

Doch Magnus reagiert nicht, er mustert nur mit einem recht ängstlichen Blick den Medikus. Dieser ist ein älterer Herr, gekleidet in einen einfachen, bürgerlichen Anzug. Sein Haar ist etwas durcheinander gewirbelt und sein Gesicht wird durch einen Oberlippenbart, welcher grau wie das Haar ist, bestimmt. Auf seiner Nase sitzt eine große Brille, die ihm ein

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intellektuelles Aussehen verleiht. Als er bemerkt, dass der Graf nicht zum Wort ansetzen will, spricht er in ruhigem Tonfall weiter.

“Man fand euch hinter der alten Residenz in Liberheim. Was ist dort vorgefallen?”

Langsam beginnt Magnus zu sprechen:

“Ich wollte mich im Hause meines Vaters umsehen… Alte Geschichten kamen mir in den Sinn und so begann ich bei etwas Wein in einem alten Buch über seltsame Kreaturen zu lesen. Der Wein scheint mir zugesetzt zu haben und ich schlief über meiner Lektüre ein… Und dann als ich erwachte, hörte ich plötzlich Schritte im Nebenzimmer…”

Plötzlich bricht der Graf seine Ausführungen ab und zwingt so den interessiert lauschenden Medikus dazu, ihn zum weitersprechen zu animieren.

“Was geschah dann, werter Graf?”

“…ich… Ich dachte ein Räuber wäre im Haus, denn die Nacht war bereits hereingebrochen. Gerade wollte ich den Raum durch eine andere Tür verlassen… da stand er vor mir… oder vielmehr es….”

Magnus’ Stimme zittert als die letzten Worte nach außen dringen. Der Medikus kann die Furcht, die der Graf spürt, hören. Doch er muss mehr erfahren und so fragt er behutsam weiter:

“Wer stand vor euch, werter Graf?”

“Es war einer von denen im Buch… eine grausige Gestalt… mit einem Zylinder… Es war… furchtbar… er wollte mich töten…”

Ohne die Frage wirklich zu beantworten verliert sich der Graf in Wortfetzen und blickt nun unablässig zu der Wand gegenüber des Bettes.

“Ich verstehe nicht, Graf Schwarzherz. Wer stand denn nun vor euch?”

Magnus erhebt sich langsam, beugt sich langsam zum Medikus hinüber, welcher ihn verwundert anschaut, und flüstert ihm mit weit aufgerissenen Augen und zitternder Stimme ins Ohr:

“Einer von ihnen… ein Meeth… ein Menschenfresser….”

Der säuselnde Klang seiner Stimme verunsichert sogar den Medikus, doch als Magnus wieder im Bett sitzt und nur ängstlich umher schaut, ist auch der Medikus wieder der Alte.

“Ich kenne das Märchen vom Menschenfresser, mein Graf. Er soll angeblich kleine Kinder holen. Aber nie hat jemand einen gesehen. Es ist wahrlich nur ein Märchen… Nicht mehr. Ihr habt dies sicher nur geträumt.”

Magnus wendet seinen hilfesuchenden Blick wieder dem Medikus zu. In seinem Kopf sitzt noch immer das Bild des Monsters.

“Nein, es war real… Ich träumte schon viel, aber das war kein Traum…. Nein… Jene Kreatur war echt und wollte mir an den Leib.”

“Beruhigt euch… Es war sicher nur eine Einbildung. Soweit ich weiß, wart ihr schon lange nicht mehr in diesem Haus und ihr habt, so viel mir euer Bediensteter berichtete, in letzter Zeit auch viel Stress ertragen müssen. Erst der Kampf in Grenada und dann das Verschwinden der Kinder hier. Da kann es durchaus passieren, dass sich der Körper zur Wehr setzt und einen mit solchen Trugbildern martert.”

Über den Unglauben des Medikus erbost schnellt Magnus auf den selbigen zu, packt ihn mit aller Kraft an den Schultern und beginnt mit einer wahrlich angstverzerrten Stimme zu sprechen:

“Nein! Es war real! Ich bilde mir sowas doch nicht ein! Ich bin doch nicht verrückt!”

Der Medikus befreit sich von Magnus Griff und erhebt sich schnell von seinem Stuhl, welcher durch den Ruck nach hinten umkippt. Der Graf wird zurück auf das Bett geschleudert. Durch den Lärm angelockt, tritt Adelbert herein und erkundigt sich, ob alles in

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Ordnung sei. Der Medikus entgegnet, dass der Graf dringen Ruhe braucht. Dann stellt er den Stuhl wieder an seinen Ursprungsort und bespricht noch etwas mit dem Bediensteten.

Doch Magnus interessiert nicht, was der Medikus erzählt. In seinem Kopf spukt das Bild des Menschenfressers umher. Gewunden liegt er auf dem Bett, sein Blick ist leer… auch bemerkt er nicht, wie Adelbert und der Medikus den Raum verlassen.

Leise dringt die ganze Zeit nur: “Es war real…”, über seine Lippen. Doch irgendwann ereilt ihn die Erschöpfung und er entschlummert der Realität.

Ein schöner Traum versüßt ihm die Nacht und schenkt seinem geschundenen Geist Erholung.

Am nächsten Morgen erwacht der Graf durch das Sonnenlicht, welches sich seinen Weg, durch die diese Nacht nicht von Vorhängen verdeckten Fenster sucht. Noch immer erinnert er sich an die Dinge, die sich im Haus zutrugen, doch im Licht des Tages wirkt all das, was geschah, so fern und surreal…

Wieder ausgeruht ist der Graf nun jedoch wieder guter Dinge und erhebt sich aus seinem Bett. Er tritt hinüber zu seinem Kleiderschrank und legt einen schlichten Alltagsanzug in schwarz an. Als er damit fertig ist, öffnet sich die Tür und der verwundert schauende Adelbert steht vor ihm.

“Mylord, ihr seid wieder wach? Das freut mich. Ich wollte gerade nach euch sehen, doch ist es nun wohl angebrachter das Frühstück anzurichten.”

“Ja, Adelbert, ich bin wahrlich hungrig. Doch lasse dir Zeit, ich will noch ein wenig arbeiten. Du findest mich in meinem Arbeitszimmer.”

“Sehr wohl, Mylord.”

Mit diesen Worten tritt der Bedienstete aus dem Raum. Magnus tritt hinaus auf seinen Balkon und und atmet vergnügt die frische Morgenluft ein. Er blickt hinaus in die Ferne, wie er es jeden Morgen zu tun pflegt. Doch diesmal wendet er sich schon nach wenigen Minuten von der morgendlichen Szenerie ab und tritt zurück ins Haus. Er schließt die Tür des Balkons und geht hinüber in sein Arbeitszimmer. Langsam schließt er hinter sich die Tür und blickt erst prüfend zum Schreibtisch hinüber. Das Buch aus der Residenz liegt darauf, so wie Adelbert es ihm gesagt hatte. Unsicher schreitet er hinüber zum Polsterstuhl und nimmt Platz. Vollkommen aufrecht sitzt er da, ähnlich einem Schuljungen, der den Lehrer beeindrucken will… und vor ihm liegt sein Lehrbuch, darauf wartend, aufgeschlagen zu werden. Ein Gefühl des Unbehagens macht sich im Magen des Grafen breit… Allein der Anblick des Buches macht ihm schon Angst, wenngleich es nicht das Buch ist, was er fürchtet, sondern das, was darin auf ihn wartet.

Minuten vergehen, doch der Graf kann sich nicht dazu durchringen, das Buch auch nur zu berühren… Die ganze Zeit sitzt er gerade davor, die Arme daneben liegend, unablässig das Buch fixierend, als sei es ein Raubtier, dass ihn anfallen will und auf dessen Angriff er wartet.

Nach einer ihm endlos lang erscheinenden Zeit, fasst er doch Mut und blättert mit zitternden Hand die erste Seite des Buches auf… Dann jedoch tritt Adelbert herein und meldet, dass das Frühstück bereit stehe.

“Ein Zeichen…”, denkt sich Magnus und schlägt das Buch wieder zu.

Dann geht er in das Esszimmer und stärkt sich…

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Es ist finster…. Dunkelheit umgibt den Blick des kleinen Leo. Kein einziger Lichtreiz dringt an sein Auge. Das kalte Metall an seinen Handgelenken und die Wand in seinem Rücken sind das einzige was er spürt…. und der widerlich süßliche Geruch, der in seine Nase dringt…

Er kann sich nicht daran erinnern, was genau geschehen ist. Doch die Situation ängstigt ihn. Er versucht sich zu befreien, doch es gelingt ihm nicht. Durch seine Zappelei erklingt nur der dumpfe Klang von Ketten die gegen eine Wand schlagen. Da beginnt eine Stimme zu ihm zu flüstern:

“Hallo…? Ist da jemand?”

“Ja, ich bin hier.”, antwortet Leo.

“Wer bist du…?”, fragt die Stimme ängstlich doch nun so laut, dass er die Stimme eines Mädchens erkennt.

“Ich bin Leo… Aber wo sind wir….?”

“Ich weiß es nicht…”, spricht die Stimme nun mit weinerlichem Klang, “Ich will hier weg.”

Dann hallt ein Seufzen durch den Raum.

Noch einmal versucht sich Leo zu befreien, doch es ist sinnlos. Dann blendet ihn ein plötzlich erscheinendes Licht. Als sich seine Augen an das Licht gewöhnt haben, erkennt er, dass das Licht von einer Tür stammt, die jemand geöffnet hat. Er muss sich in einem Keller befinden, denn vor der Tür kann er die schwach beleuchteten Stufen erkennen. In der Tür steht eine große Gestalt, doch da sie dem Licht abgewendet steht, kann er nur die Umrisse erkennen. Es scheint ein Mann mit einem Hut zu sein. Dann erklingt von der Tür eine sanfte männliche Stimme:

“Aber aber…. Ich dachte ihr seid brav… Wenn ihr so einen Radau macht, dann findet euch noch jemand…”

Dann tritt die Gestalt einige Stufen hinab und schließt die Tür hinter sich. Doch auch wenn Leo ihn nun nicht mehr sieht, kann er ihn hören. Der Klang seiner Schritte hallt durch den Raum, lauter und lauter…. sich stetig nähernd. Dann sind die Schritte so laut, dass die Gestalt wohl vor ihm stehen muss. Langsam streicht eine Hand über sein Gesicht.

“Hab keine Angst mein Kleiner… Ich passe schon gut auf euch auf…”

Mit jedem Wort dringt ein warmer fauliger Luftzug an Leos Haut. Kaum verstummt die Stimme, entfernen sich auch die Schritte. Langsam…. Schritt… um Schritt… Bis sie wieder verstummen. Noch immer wimmert die andere Stimme, die er zuvor vernahm. Dann dringt das Geräusch von schleifendem Metall an Leos Ohr und die Schritte nähern sich wieder. Als die Gestalt vor ihm zu stehen scheint, ertönt wieder die sanfte Männerstimme und spricht, als etwas kaltes über sein Gesicht gleitet.

“Du bist doch brav mein Kleiner… Nicht wahr?”

“Ja…”, dringt kaum hörbar aus Leos Mund.

“Dacht‘ ich es mir doch…”

Das kalte Objekt ist wieder verschwunden.

Die Schritte wandern nun nach rechts, von wo das Wimmern kommt.

“Aber du… Du bist eindeutig zu laut….”

Dann ertönt ein dumpfes fleischiges Geräusch und ein leises Tröpfeln… das Wimmern verstummt.

“Aber das ist nicht schlimm… Mein Magen verlangte ohnehin nach Füllung…”

Ein Schmatzen dringt nun von der Seite an Leos Ohr, dessen Magen knurrt.

“Oh, mir scheint du hast auch Hunger…. Wie unhöflich… Möchtest du etwas zu Essen…?”

“Ja…”

“Kein Problem, ich teile gern…………..”

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Noch einmal hat sich der Fürst dazu durchgerungen und sich in sein Arbeitszimmer begeben. Wieder befindet er sich ängstlich vor dem Buch sitzend. Und wieder wagt er es nicht, es aufzuschlagen. Minuten verrinnen vom Grafen unbemerkt…. Eine geschlagene halbe Stunde sitzt er schon vor dem Buch… Dann hebt er jedoch zitternd seine rechte Hand und bewegt sie zum jener papiernen Quelle der Angst….

Doch plötzlich tritt Adelbert herein und meldet, dass ein Bote aus der Stadt eingetroffen sei.

“Schon wieder ein Zeichen…”, denkt er bei sich und begibt sich nach unten, um mit dem Boten zu sprechen.

Der Bote ist aus Liberheim und bringt nur die “üblichen” Neuigkeiten. Er berichtet, dass erneut Kinder verschwunden sind und es noch immer keinen Hinweis auf den Entführer gibt. Doch Magnus ist ratlos und gibt dem Boten den Auftrag, Hauptmann Berner zu berichten, dass er sich nun ganz dem Fall annehmen soll. Dann ist der Bote auch schon wieder entschwunden. Magnus verweilt kurz in der Eingangshalle…

“Natürlich..:”, denkt er so bei sich, “dieses Monster… dieser Menschenfresser holt die Kinder. Aber wenn ich das jemandem erzähle…. Ich muss Nachforschungen anstellen…”

Als er seinen Gedanken zu Ende gedacht hat, begibt er sich erneut in sein Arbeitszimmer.

Dort ist Adelbert gerade mit dem Entstauben der Schränke beschäftigt.

“Oh, Mylord wünschen wieder zu arbeiten? So werde ich mich entfernen.”

“Nein, nein. Bleib ruhig hier…. Deine Anwesenheit könnte mir durchaus den Mut geben, den ich für jene Aufgabe, welche ich in Angriff nehmen muss, brauche.”

Durch Adelberts Anwesenheit in seinem Mut bestärkt, wagt es Magnus nun, das alte Buch direkt aufzuschlagen. Vorsichtig blättert er eine Seite nach der anderen um, immer das Bild der Kreatur vor Augen habend. Der Diener interessiert sich jedoch nicht weiter für das Verhalten des Grafen und entstaubt weiter die Schränke.

Da… endlich blickt wieder das furchtbare Grinsen des Monsters aus dem Buch zu Magnus hinauf. Fast scheint es dem Grafen, als würde die Kreatur ihn wirklich anschauen… so durchdringend ist schon der Blick des auf Papier gebannten… Wenngleich er sich auf der Suche nach Hinweisen befindet, wie der Bestie beizukommen sei, so ist es ihm doch nicht möglich, seinen Blick von der Zeichnung abzuwenden… So verliert er sich mit jeder Minute die er dieses Bild anstarrt wieder in Fantasien die ihm den Abend vorgaukeln, den er in der Residenz erlebte….

Schritte von seiner Rechten… Magnus erstarrt vor Angst… Langsam erhebt er sich…. An den Wänden flackert unruhig das Licht, das die Flammen des Kamins in den Raum werfen… Unsicher geht er auf die Tür zu, durch die er das Zimmer betrat…. Und wie an jenem Abend, öffnet sich auch diesmal die Tür und die Kreatur steht vor ihm… Voller Angst und Entsetzen geht er nach hinten, bis das Fenster in seinem Rücken ist… Die Kreatur kommt näher und streckt langsam seine dürren Finger nach ihm aus… Ein Schrei dringt aus seinem Mund und er stürzt nach hinten aus dem Fenster…

“Mylord! Was ist los, Mylord?

Wieder bei Sinnen, erblickt Magnus Adelbert der vor ihm steht, er selbst liegt auf dem Schreibtisch.

“Wo… Wo bin ich?”, fragt der Graf unsicher.

“Ihr seid plötzlich aufgestanden, Mylord, und wandeltet mit angstvollem Blick im Raum umher. Ich wollte lediglich schauen, was mit euch los sei. Doch als ich euch näher kam, da seid ihr mit einem Schrei zurückgewichen und auf dem Schreibtisch gelandet.”

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Über die Situation sehr verwundert, erhebt sich Magnus von dem Schreibtisch und atmet, den Kopf in den Händen haltend, schwer durch.

“Mylord, es wäre sich besser, wenn ihr euch noch etwas Ruhe gönnen würdet, so wie es der Medikus befahl.”

“Ja, das wäre wohl das Beste…”

Noch etwas benommen schreitet Magnus aus dem Zimmer. Der Bedienstete erblickt das aufgeschlagene Buch und mustert die Zeichnung des Menschenfressers.

“Sollte dies der Ursprung sein…?”, denkt er so bei sich und beschließt das Buch vor dem Zugriff des Grafen zu beschützen…

Magnus hat sich mittlerweile wieder in sein Bett gelegt. Nach wenigen Minuten tritt Adelbert in das Zimmer, in seiner Hand ein Glas mit einem Getränk haltend.

“Mylord, der Medikus hat mir etwas Medizin zur Beruhigung gegeben. Wenn ihr so freundlich wärt, dies zu trinken.”

Ohne ein Wort zu sagen nimmt Magnus das Glas und leert es in einem Zug. Die Flüssigkeit schmeckt etwas bitter, doch wenn sie ihm Ruhe verschaffen mag, so sollte dies das kleinste Übel sein. Adelbert schließt derweil die Vorhänge. Als er das Zimmer zu Genüge abgedunkelt hat, nimmt er wieder das Glas entgegen und verlässt den Raum.

Schnell tritt die Wirkung der Medizin ein und der Graf entschlummert sanft…

Zu später Stunde erwacht der Graf in seinem Schlafgemach. Der Mond sendet seinen Silberglanz hinab zur Erde und einige Strahlen des Selbigen scheinen geheimnisvoll durch jene Ritzen, die die Vorhänge nicht zu verdecken imstande sind. Unruhe herrscht in Magnus’ Herz. Ein dunkler Schatten vernebelte ihm den Geist, als er Ihn traf…

Sich der späten Stunde bewusst seiend, wendet sich der Graf im Bett herum und sucht sein Heil im Versuch zu ruhen. Doch jener Versuch scheitert kläglich, so dass der Graf beschließt, sich im Badezimmer zu erfrischen und so das durch die verschwitzte Haut erzeugte Unwohlsein zu beseitigen. Er erhebt sich und sucht auf dem Bett sitzend nach einer Möglichkeit die Öllampe auf dem Nachtschränkchen zu entzünden. Nach einigem orientierungslosen Herumgetaste auf dem Nachtschränkchen erinnert er sich an ein Geschenk, dass ihm ein Techniker aus der Hafenstadt Brennbach machte. Ein kleines mit einem brennbarem Stoff gefülltes Gerät, auf dem bei schnellem Drehen an einem Rad ein Flämmchen entsteht. Der Techniker nannte es: Feuerzeug. Er erklärte dem Grafen noch, dass diese Innovation das Leben der Mensch beachtlich verändern würde, nun das sie nicht mehr von den Brennhölzern abhängig waren. Der Graf interessierte sich jedoch kaum dafür, nahm aber doch dankend das Gerät entgegen. Er legte es in das oberste Fach des Nachtschränkchens, in dem Gedanken, dass er es wohl eh nie verwenden würde. Doch ähnlich seiner Begegnung in der Residenz beweist auch dieser Umstand wieder, dass der Mensch wohl nie wissen wird, was die Zukunft bringt. So öffnet er das Fach und findet schnell das kleine Metallobjekt. Er nimmt es in die Hand und dreht mit dem Daumen an dem kleinen Rädchen. Funken sprühen, doch keine Flamme entsteht. Einige Versuche folgen und der fünfte ist mit Erfolg gekrönt. Mit dem Flämmchen entzündet der Graf die Öllampe und legt das Feuerzeug beiseite. Noch etwas unsicher auf den Beinen wankt er hinüber zur Tür und tritt hinaus in den Flur, geht diesen hinunter Richtung Treppe und dann nach links in das Badezimmer. Er stellt die Lampe beiseite und erquickt sich an dem kalten Nass, welches sich in einer Schüssel unterhalb eines Wandspiegels befindet. Die Erfrischung haucht dem Grafen wieder neues Leben ein. Er trocknet sich an einem Stofftuch ab und blickt nun mürrisch in den Spiegel vor sich. Einst sah er klar sein eignes Gesicht dort in der reflektierenden Scheibe, doch jener der ihn nun anschaut ist blass, Augenringe zeugen von den Strapazen der letzten

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Tage und all den finsteren Gedanken, die ihn immer wieder einholen… so wie sie es auch vor der Begegnung mit dem Unaussprechlichen taten.

Je länger er das Spiegelbild betrachtet, um so fremder wirkt jener der ihn dort anstarrt. Unfähig seinen Blick abzuwenden, beginnt das Gesicht immer fremdere Züge anzunehmen. Verschwommen nimmt der Graf die Welt in seinen Augenwinkeln wahr. Nur die Fratze im Spiegel, welche sich langsam zu formen beginnt, ist klar zu sehen. Der Graf erschrickt, als ihn nach endlos scheinenden Augenblicken das anstarrt, was dem Monster ein Gesicht sein soll. Die gelben Augen brennen in seinem Herzen wie Feuer, das boshafte Grinsen der faltigen Gestalt raubt ihm den Mut und zugleich steigt in ihm das Verlangen, diesem Elend ein Ende zu setzen.

“Verschwinde!”, schallt der Graf dem Spiegel entgegen, kurz bevor er ihn mit einem Faustschlag zerstört. Der Spiegel zerbirst und Scherben fallen zu Boden und fröhlich

plätschernd in die Wasserschüssel. Als er zu Boden blickt, schaut ihn aus den Resten des Spiegels in Fragmenten jenes Gesicht an, dass ihm so fremd geworden ist.

Schmerz macht sich in seiner Hand breit, Blut tropft zu Boden…

Langsam kehrt der Geist des Grafen zurück und er wickelt sich hastig das Handtuch um die blutende Wunde.

Adelbert, welcher durch den Lärm geweckt wurde, findet den Grafen verletzt im Badezimmer vor und lässt den Medikus holen, welcher die Wunde des Grafen näht und versorgt…

“Ich mache mir Sorgen um die geistige Gesundheit des Grafen.”, flüstert der Medikus Adelbert zu, laut genug, dass dieser es versteht, doch zu leise, als dass es der Graf, welcher nun wieder in seinem Bett liegt vernehmen kann. Sein Gesicht ist zu den Fenstern gewandt, doch wenngleich er die beiden nicht sieht, so ist er doch sicher, dass sie über ihn sprechen, ihn als krank ansehen. Wären sie dort gewesen in jener Nacht, sie würden ihn nicht mehr in solcher Weise verhöhnen, als krank beschimpfen. Doch sie waren nicht dort, sie sahen ihn nicht… den Menschenfresser…

Tief versunken in seinen Gedanken, entschwindet der Graf schnell ins Reich der Träume.

Sonnenstrahlen scheinen dem Grafen ins Gesicht, als er am nächsten Morgen erwacht. Adelbert öffnet gerade die Vorhänge.

“Ein neuer Tag…”

Nur leise dringen die Worte aus des Grafen Mund.

“Ah, ihr seid erwacht, Mylord. Ich werde sogleich das Frühstück herrichten.”

Doch der Graf achtet nicht weiter auf seinen Bediensteten, sein Blick wirkt leer, etwas fixierend, was jenseits dieser Welt liegt…

Mit finsterer Miene sitzt der Graf am Frühstückstisch. Doch kein Essen findet den Weg zu seinem Mund. Mit leerem Blick starrt er auf den Tisch.

“Mylord, wenn ich mir erlauben dürfte, das Wort zu erheben.”

Der Graf scheint wieder in diese Welt zurückzukehren. Er spricht kein Wort, doch seine Augen, die sich dem Bediensteten zuwenden, genügen als Antwort.

“Mylord, ich mache mir ernsthafte Sorgen um eure Gesundheit. Ich habe in der letzten Nacht noch mit dem Medikus gesprochen. Er meint, es wäre besser, wenn ihr… euch in einer entsprechenden Örtlichkeit erholen würdet.”

“Im Irrenhaus…”, dringt es leise aus Magnus’ Mund.

“Nun Mylord, dies ist wahrlich eine unschöne Umschreibung.”

“Aber ihr wollt mich doch in eine Irrenanstalt schicken….”

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Des Grafen Stimme schallt nun bestimmter durch den Raum.

“Mylord, versteht das bitte nicht falsch… Ihr sollt euch lediglich etwas erholen.”

“Ihr haltet mich für verrückt… Das ist es doch. Ihr haltet mich schlichtweg für verrückt! Aber ich bin nicht verrückt!”

Die Faust des Grafen landet laut pochend auf dem Tisch, der Krug mit seinem Rostwurzsaft stürzt um und dessen Inhalt ergießt sich auf die weiße Tischdecke.

“Nein, Mylord. Ihr sollt euch lediglich erholen. Eure Nerven… Ihr seid zu unberechenbar geworden, ich bin nicht mehr der Jüngste und…”

Adelbert kommt nicht dazu seine Ausführungen zu beenden, da erhebt sich der Graf und keift ihn an:

“Was wollt ihr mir sagen? Spuckt es schon aus!”

Adelbert ist zunächst von der plötzlichen Aggression des Grafen eingeschüchtert, doch erhebt dann mutig das Wort.

“Mylord, ich habe lange Jahre treu gedient, doch mit der aktuellen Situation komme ich nicht zurecht. Ständig tut ihr etwas seltsames und bringt euch in Gefahr. Bitte be…”

“Dann geht! Geht! Sofort! Und nehmt die anderen mit! Ich komme auch allein zurecht!”

Entsetzt blickt Adelbert den Grafen an.

“Was ist? Ihr zögert? Geht ihr nun freiwillig oder muss ich euch erst fortjagen?”

Der Graf nimmt den umgestürzten Kelch und bedeutet Adelbert so, dass er ihn wohl auch werfen würde, wenn dieser sich nicht schnellstens entfernt.

Schweigend entfernt sich Adelbert aus dem Raum. Der Graf ruft ihm jedoch noch hinter:

“Bis Mittag haben alle das Haus zu verlassen! Lasst mich allein! Lasst mich doch endlich allein…”